Kobanê: Hilfskorridor zum Wiederaufbau gefordert

Seite 2: Angriffe mit Unterstützung der Türkei?

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Weil wir gerade bei der Türkei sind, wir haben ja aus Afrin z.B. Berichte gehört, dass Bauern beim Weiden von ihren Tieren von türkischen Soldaten erschossen worden sind. Gibt es Übergriffe auch an der Grenze zu Kobanê auf die Bevölkerung von Kobanê durch die türkische Armee oder gibt es direkte Unterstützung des IS durch die türkische Armee dort?

Idriss Nassan: Auch schon vor dem Krieg, bevor die Kämpfe in Kobanê ausgebrochen sind, gab es verschiedene Bestrebungen, die Grenze zu passieren, sei es, weil sie auswandern wollten oder Handel betreiben wollten. Es war auch schon damals so, dass die Grenze ein Ort war, wo gefoltert wurde, wo misshandelt wurde, wo getötet wurde.

Um ein konkretes Beispiel zu geben: Ein 17jähriger Jugendlicher hat die Grenze passiert nach Bakur, nach Nordkurdistan, wurde dort aufgehalten, wurde gefoltert auf schlimmste Art und Weise, danach haben sie auf ihn uriniert und liegen gelassen. Also es ist etwas Unmenschliches, was regelmäßig dort vorkommt. Die Grenze ist tatsächlich eine Grenze des Todes und der Folter, während in anderen Gebieten, die von islamistischen Kräften wie Al Nusra und IS kontrolliert werden, die Grenzen zur Türkei offen sind.

Die Menschen dort können ohne irgendwelche Hindernisse ein- und ausreisen. Um ein weiteres konkretes Beispiel aus Cizîrêzu geben: Dort wollte eine Frau die Grenze passieren, um nach Europa auszuwandern, um zu ihrer Familie zu kommen, sie wurde an der Grenze einfach erschossen und dort zurückgelassen. Das sind einige wenige Beispiele, aber es sind viele solcher Fälle zu verzeichnen. Es gibt Aktivisten, die das alles protokolliert haben und auch Klage erhoben haben. Die Berichte liegen auch internationalen Menschenrechtsorganisationen vor und sie können auch nachvollzogen werden, wie viele Leute solchen Verbrechen zum Opfer gefallen sind.

Eins möchte ich noch erwähnen, es gab einen Angriff an dem Grenzübergang Mürşitpinar auf Kobanê. Dort kam eine Autobombe des IS von der türkischen Seite und ist an dem Grenzübergang explodiert und hat 17 Zivilisten mit in den Tod gerissen. Wir wurden davon überrascht, weil wir keinesfalls mit einem Angriff aus dem Norden gerechnet haben, aber die Autobombe wurde von den türkischen Sicherheitskräften durchgelassen, ist dort zur Explosion gekommen. Dieser Angriff kam sehr früh in den Morgenstunden, es war zwischen 5.30 und 6 Uhr als die Bombe hochging und wir wurden mehr oder weniger überrascht.

"Wir erhalten keinerlei Unterstützung"

Die internationale Koalition hat zwar - nach einiger Zeit- militärisch eingegriffen, aber sie macht jetzt keinerlei Anstalten, humanitäre Hilfe durchzulassen. Wie kann das sein, wie erklären Sie sich den Widerspruch?

Idriss Nassan: Die genannten Tatsachen machen uns in der Tat auch sehr traurig und nachdenklich und wir betonen das auch bei unseren Gesprächen und thematisieren auch immer wieder: Wenn Ihr uns doch unterstützt bei der Bekämpfung des IS, ist es dann nicht auch Eure Aufgabe beim Wiederaufbau zu helfen, geht das eine mit dem anderen nicht eigentlich einher, bedingt das eine nicht das andere? Wir können sagen, dass grundsätzlich die Rolle der internationalen Kräfte in allen Gebieten, nicht nur in Kobanê sehr schwach ist.

Wir erhalten keinerlei Unterstützung, die Menschen sind darauf angewiesen, sich durch eigene Quellen zu versorgen und das gestaltet sich natürlich sehr schwierig. Als die Angriffe des IS sehr stark waren, und das in der Öffentlichkeit auch thematisiert wurde, haben sie dann Angriffe - in Koordination mit uns - auf diese IS-Terroristen ausgeführt, aber darüber hinaus geht es leider nicht.

Wir sagen immer, wenn es um die Unterstützung von demokratischen Strukturen geht, wenn es um die Menschlichkeit geht, dann ist es auch die Aufgabe der internationalen Kräfte auch beim Aufbau solcher Strukturen behilflich zu sein, sprich für die Unterstützung unseres Systems. Wir denken, dass es die Aufgabe aller ist, uns, da wir als stellvertretend für die Menschlichkeit gekämpft haben, uns zu unterstützen und wieder auf die Beine zu stellen.

Wichtig für die Stabilisierung Rojavas sind die diplomatischen Beziehungen zu europäischen Ländern und zu den USA. Es müsste ja im Prinzip z.B. im Interesse der Bundesregierung sein, den Wiederaufbau zu unterstützen, damit die Flüchtlinge wieder nachhause können und dort wieder ein neues Leben aufbauen können?

Idriss Nassan: Zu der ersten Frage bezüglich Europa: Nachdem diese Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer mit 700 Toten passierte, meine ich, Menschen sollten erst gar keinen Grund haben, nach Europa zu flüchten, es müsste doch auch im Interesse der europäischen Regierungen sein, dass die Menschen würdige Lebensumstände in ihren Ländern haben. Deshalb denke ich auch, dass es wichtig ist, Kobanê wieder lebensfähig zu machen, damit die Leute dort bleiben können. Das würde eben nicht dazu führen, dass die Leute nach Europa kommen. Und ich denke, die Europäer müssten da ein großes Interesse haben, Kobanê wieder mit aufzubauen.

Wenn wir es nicht schaffen sollten, unser Gebiet wieder aufzubauen, lebensfähig zu machen, damit die Leute zurückkehren, dann wäre das auch ein Sieg für den Terror und eine Niederlage für die Demokratie, weil wenn die Heimat von Menschen entleert wird und dort kein Menschenleben mehr möglich ist, dann hat der Terror gewonnen. Und das müssen wir mit allen Mitteln verhindern.

"Unser System ist keine Gefahr für andere Systeme"

Eine politische Anerkennung Rojavas durch wäre wünschenswert, erscheint mir aber noch in weiter Ferne. Der US-Außenminister Kerry hatte, bevor die Angriffe begonnen, gesagt, dass Kobanê strategisch nicht wichtig ist und fallen wird. Letzten Endes war es ja ein internationaler Aufschrei, der dann dazu geführt hat, dass sie überhaupt irgendwas gemacht haben. Wie erklären Sie sich, dass der Westen nur durch Zwang überhaupt etwas gegen den IS vor Kobanê unternahm?

Idriss Nassan: Also unser System wird tatsächlich von vielen unabhängigen Seiten als sehr demokratisch eingestuft, geradezu als das demokratischste im Mittleren Osten. Aber wir wollen immer wieder betonen, dass unser System keine Gefahr für irgendwelche anderen Systeme darstellt. Wir wollen letztlich nur in Ruhe leben und Frieden haben und dass auch Frieden in aller Welt einkehrt. Wir werden mit Sicherheit niemand bedrohen.

Wir denken vielmehr, dass die Bedrohung von deren System ausgeht, gerade von deren Wirtschaftssystem, sprich dem Kapitalismus. Von uns aus werden wir immer darauf bedacht sein, ein friedliches Zusammenleben zu gewähren und von uns werden keine Gefahren ausgehen. Daher sollten die Menschen sich keine Sorgen machen. Die Gefahr geht vielmehr von den islamistischen Kräften aus, wenn sie die Gebiete dort kontrollieren sollten, wäre das doch eine viel größere Gefahr für die hiesigen Länder, Staaten, als wenn wir dort siegen sollten.

Weil wir gerade über die demokratischen Strukturen dort gesprochen haben, als wir in Cizîrê waren, haben wir viel vom Rätesystem dort mitbekommen. Wie funktioniert dieses demokratische Modell im Moment gerade in Kobanê?

Idriss Nassan: Zunächst einmal, wir haben das gleiche System wie in anderen Teilen Rojavas auch, wie z.B. in Cizîrê. Natürlich hat Cizîrê einige Besonderheiten, weil die Demographie dort eine andere ist, aber vom Prinzip her haben wir das gleiche System. Auch in Kobanê gibt es nach wie vor Kommunen. Die Stadt ist aufgeteilt in 13 Bezirke, in allen Bezirken gibt es jeweils eine Kommune, wo die Menschen zusammenkommen können und ihre Anliegen diskutieren und beschließen können.

Darüber hinaus haben wir eine Legislative, die allgemeingültige Regeln entwickelt und erlässt. Und wir verstehen das ganze System als eines, was von unten nach oben funktioniert. Wir wollen kein bürokratisches System, was von oben herab die Beschlüsse fasst. Das garantiert, dass die Menschen unmittelbar partizipieren können, sich einbringen können und am System teilhaben können.

Wie ist denn Legislative mit der kommunalen Organisierung verbunden? Sind das Leute aus den Kommunen, die in die Legislative gewählt werden, oder wie setzt sich das zusammen?

Idriss Nassan: Die Mitglieder der Legislative werden aus den Kommunen in diese Kommission herein gewählt. Die Legislative soll ja alle Bereiche des Lebens abdecken. Dementsprechend ist es notwendig, dass die Probleme, die in den Kommunen bestehen, auch unmittelbar diskutiert werden können. So werden die Mitglieder der Legislative aus den Kommunen heraus gewählt. Wenn dann in der Legislative, im Rat Beschlüsse gefasst worden sind, werden sie der Exekutive, der sogenannten Regierung, vorgelegt. Die ist dann damit beauftragt, die Beschlüsse in die Praxis umzusetzen, bzw. anzuwenden.