Kobanê, ein Jahr danach

Innenstadt Foto: Michael Knapp

Eine ganze Gesellschaft muss neu aufgebaut werden - Bestandsaufnahme der Lage vor Ort

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Die kurdische Stadt Kobanê, von der syrischen Regierung Ayn al Arab genannt, steht weltweit als Symbol für den Widerstand gegen die Grausamkeit des "Islamischen Staats". Als der Angriff des IS letzten Jahres im November seinen Höhepunkt erreicht hatte, gingen Millionen weltweit auf die Straße, Menschen in deutschen Städten, in den USA, aber auch in Afghanistan demonstrierten massenhaft für Kobanê und sorgten so dafür, dass die Stadt nicht aufgegeben werden konnte, obwohl US-Außenminister Kerry kurz zuvor noch verkündet hatte, Kobanê hätte keine strategische Bedeutung und werde fallen.

Ende 2015, ein Jahr nach dem Beginn des großen Angriffs die Stadt, versuchte der Autor im Rahmen einer Delegation eine Bestandsaufnahme der Lage vor Ort zu machen. Der IS ist mittlerweile weit zurückgeschlagen, die Verteidigungseinheiten von YPG und YPJ haben den isolierten Kanton Kobanê mit der Region Cizîre verbunden, doch Kobanê ist verwüstet und die Bevölkerung traumatisiert. Nach Angaben des Verantwortlichen für den Wiederaufbau, Abdulrahman Hemo, sind etwa 80% der Stadt vollkommen zerstört, 75% der Infrastruktur ebenfalls.

Angesichts der medialen Präsenz der Stadt und ihrer symbolischen Bedeutung könnte man zur Annahme kommen, viele Menschen und Organisationen, die internationale Gemeinschaft und alle, die den Widerstand von Kobanê beklatscht haben, würden jetzt dort den Aufbau unterstützen.

Das Gegenteil ist leider der Fall. Nach Angaben der Stadtverwaltung gibt es praktisch keinerlei Aufbauprojekte - die einzige Ausnahme stellt das Gesundheitszentrum des Bündnisses ICOR dar, welches zwar bei einer Bevölkerung von c.a. 187.000 Menschen symbolisch wichtig ist, aber praktisch einen Tropfen auf den heißen Stein darstellt.

Frau aus der Selbstverteidigungsmiliz HPC in Kobanê. Foto: Michael Knapp

Es kehren immer mehr Menschen zurück, teilweise sind es über 1.800 an einem Tag. Beritan, eine Aktivistin, erklärte uns angesichts des bevorstehenden Winters:

Die internationale Aufmerksamkeit hat uns großen Mut gemacht, viele, die zurückgekehrt sind, hatten große Hoffnung in den Wiederaufbau, nun kommt der Winter und es ist immer noch nichts geschehen, die Menschen leben zu Tausenden in Zelten.

Man kann ihr nur zustimmen, insbesondere was die Lage um Kobanê betrifft, allerdings haben die Menschen in der Stadt aus eigenen Mitteln Unglaubliches erreicht: So haben sie beispielsweise 1,4 Millionen Tonnen Kriegsschutt aus der Stadt geräumt. Der wenigen vorhandenen Hilfe steht die Entschlossenheit der Menschen, die Stadt wieder aufzubauen, gegenüber.

Arab. Asayish-Mitglied. Foto: Michael Knapp

Überall sind die Namen der Menschen präsent, die ihr Leben für die Verteidigung der Stadt gegeben haben, so wie Arîn Mîrkan, die am Berg Miștenûr sich selbst opferte, um einen Panzer des IS zu stoppen, oder Revan, die eine große Einheit des IS sprengte, und sich dabei opferte. Die YPJ-Kämpferinnen wurden somit zum Symbol des Widerstands und entscheidend daran beteiligt, das Regime des Schreckens des IS zu brechen.

Sprengkörper machen jedoch in der Stadt - aber vor allem im Umland immer noch große Probleme. So sind große Teile der Nutzflächen, aber auch ganze Dörfer immer noch vermint und die Bevölkerung kann nicht zurückkehren. Es fehlt an Spezialkräften, die bereit sind, Minen zu räumen - bzw. Menschen in der Region dafür auszubilden. Angesichts der Größe und Vielfalt der Aufgaben für den Wiederaufbau ist allerdings viel mehr Unterstützung nötig, als das, was kleine internationale Projekte leisten können.

Warum fehlt die Unterstützung?

Sicherlich kann das nicht nur auf die Kurzlebigkeit der Aufmerksamkeitsspanne auch eines solidarischen, europäischen Publikums zurückgeführt werden, es hat vor allem etwas mit dem Embargo über die Region zu tun, das von allen Seiten aufrechterhalten wird. Insbesondere nach dem durch den türkischen Staat neu entfachten Krieg in Nordkurdistan (Türkei) sind die Grenzen nach Rojava auf allen Seiten geschlossen. Der Verteidigungsminister von Kobanî, İsmet Şêx Hesen, der auch den Kampf um die Stadt mitorganisierte, beklagte:

Es fehlt hier praktisch an allem. Insbesondere an Mitteln, um uns selbst zu helfen - von medizinischen Gütern bis hin zu schweren Waffen. Kobanî ist drei Jahre lang von Feinden umzingelt gewesen.

Auch die kurdische, vom türkischen Staat abhängige KDP in Südkurdistan (Nordirak) hält ihre Grenzen nach Rojava für medizinische Hilfsgüter und Technik in zunehmendem Maße wieder geschlossen. Es werden Delegationen, Journalistinnen und Journalisten und Hilfsgüter und Hilfskräfte systematisch durch die KDP aufgehalten und schikaniert.

Eine Delegation von ICOR berichtete, dass sie mit der Aussage: "Auch wenn ihr Ban Ki Moon hierher bringt, werden wir Euch nicht durchlassen" an der Südkurdischen Grenze festgehalten wurde. Hinter dieser Politik stehen einerseits die Türkei und andererseits die feudalen Alleinherrschaftsansprüche der KDP in der Region.

Schild am Friedhof der Getöteten am 25.06. 2015. Foto: Michael Knapp

Obwohl der IS nach Süden weithin zurückgedrängt ist, führt die gegen Rojava gerichtete Politik der Türkei zu neuen Gefahren. Hierbei sind besonders die vielfältigen Indizien, Augenzeugenberichte und Untersuchungen von Journalisten augenfällig, die immer wieder auf eine Zusammenarbeit zwischen dem türkischen Staat und dem IS hinweisen.

Der Autor selbst konnte in einer frisch geräumten IS-Bombenwerkstatt bei Serekaniye im Mai 2015 Hilfspakete der Türkei und Saudi-Arabiens "Für unsere Kämpfer in Syrien" dokumentieren.

Das Massaker vom 25.Juni 2015

Am 25.06.15 drangen nach Berichten der Bewohner um 4:30 zwei Einheiten des IS verkleidet als YPG und Asayiș in Kobanê ein und begannen von Haus zu Haus zu gehen und Alte, Männer, Frauen und Kinder systematisch zu ermorden. Als sie bemerkt wurden, kam eine Verstärkungseinheit des IS mit Autobomben und schweren Waffen offen über den türkischen Grenzübergang Mürșitpinar und setzte das Massaker fort.

Nachdem die etwa 100 Personen des IS besiegt wurden, waren 288 Zivilistinnen und Zivilisten von den Terroristen ermordet worden, die jüngsten nur wenige Jahre alt. Sie alle wurden gemeinsam auf einem besonderen Gedenkfriedhof der Stadt beigesetzt.

Friedhof in Kobanê. Foto: Michael Knapp

Einige der IS-Mitglieder konnten sich über die türkische Grenze wieder zurückziehen. Im Gegensatz zu Zivilpersonen, welche regelmäßig an der Grenze erschossen werden, ist ihnen von Seiten des türkischen Staates nach Aussagen von Augenzeugen nichts widerfahren. Dies ist nicht der einzige ähnliche Fall, berichtet ein Augenzeuge:

Diese Stadt wird auf dem Blut der Gefallenen wiederaufgebaut. Wir haben so viele Gefallene - wie kann es sein, dass wir 5 Wagen mit Doçkas (Flugabwehrgeschütze) des IS gesehen haben, die die türkische Grenze passieren und man hält sie nicht auf? Der IS und die AKP handeln aus der gleichen Mentalität heraus.

Diese Fälle zeigen, dass der IS nicht zu besiegen sein wird, wenn das Gewährenlassen des IS durch die Türkei (aktuell sind die Grenzen noch immer offen für den IS) nicht beendet wird. So lange wird sich der IS immer wieder regenerieren können.

Gedenkveranstaltung auf dem MIshtenur bei Kobanê. Foto: Michael Knapp

Der IS erleidet Niederlagen, dort wo er bekämpft wird, und er regeneriert sich in Regionen wie Jarabulus (kurd. Cerablus), der Stadt mit dem letzten von ihm kontrollierten Grenzübergang in die Türkei, nur wenige Kilometer von Kobanê, auf der anderen Seite des Euphrat gelegen. Cerablus hätte längst befreit werden können, wenn nicht die militärische Unterstützung der Türkei wäre, die offen zugibt und droht, dass jeder Versuch der YPG/YPJ zur Befreiung der Stadt mit aller Härte unterbunden würde.

Dass dies keine leeren Drohungen sind, hat die Türkei ebenfalls durch mehrere Luft- und Artillerieangriffe auf Einheiten der YPG und YPJ, aber auch durch den Beschuss von Zivilpersonen, die sich an der Grenze aufhielten, bewiesen.

Eine offenere Form der Unterstützung des IS kann es nicht mehr geben, die Reihe an Belegen einer Kooperation ist mittlerweile unüberschaubar lang geworden. Dennoch schweigt die internationale Gemeinschaft dazu - der Hauptfeind scheinen immer noch die Flüchtenden und die kurdische Freiheitsbewegung zu sein.

Schule. Foto: Michael Knapp

Die Gesellschaft in Kobanê ist traumatisiert, aber entschlossen, ihre Stadt wiederaufzubauen und zu verteidigen. Es geht hier nicht nur darum, Gebäude neu aufzubauen, sondern eine ganze Gesellschaft muss neu aufgebaut werden. Ein wichtiger Schritt wäre die Anerkennung Rojavas und ein humanitärer Korridor. Weiterhin muss ein Einmarsch der Türkei unter dem Vorwand einer "Sicherheitszone" verhindert werden, dies würde noch mehr Menschen in die Flucht zwingen und zu weiterer Zerstörung führen, wie auch den IS stärken.

Um die Gefahr des IS aber für den Mittleren Osten, wie auch weltweit zu bannen, müsste zunächst die Unterstützung des IS abgeschnitten werden und entsprechender Druck auf die Türkei, Saudi Arabien und Katar aufgebaut werden.