Können die Linksregierungen in Lateinamerika noch ein Bezugspunkt sein?
- Können die Linksregierungen in Lateinamerika noch ein Bezugspunkt sein?
- Bolivien - oder wie die Rückkehr der alten Mächte schöngeredet wird
- Über den Wahlzyklus hinaus
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Plädoyer für einen differenzierten Blick und eine Perspektive für Partizipation der Bevölkerung, statt den Fokus auf die Wahlen zu richten
In den frühen 1920er Jahren sorgten einige Bücher von Russlandreisenden für Aufmerksamkeit und oft für viel Abwehr. Verfasst hatten sie Linke, die oft mit großer Begeisterung in das nachrevolutionäre Russland bzw. die Sowjetunion gegangen sind und dann durch die politische Entwicklung enttäuscht wurden.
Sie wollten irgendwann nicht mehr schweigen und wurden so zu leidenschaftlichen Kritikern des Staates, dem sie so viel Hoffnung entgegengebracht hatten. Als Beispiele seien nur die Schriften von Emma Goldmann und Alexander Berkman genannt. Wie nah bei ihm Hoffnung und abgrundtiefe Enttäuschung zusammenhingen, hat Bini Adamczak in ihren Büchlein "Der schönste Tag im Leben des Alexander Berkman" beschrieben.
Das war der Tag, an dem der US-Anarchist die Sowjetunion betrat. Für ihn blieb es auch dann noch der schönste Tag, als er längst die politische Entwicklung in der SU heftig kritisierte. In diese Tradition kann man das aktuelle Buch von Matthias Schindler stellen, das den Titel "Vom Triumph der Sandinisten zum demokratischen Aufstand" trägt und in dem Verlag "Die Buchmacherei" herausgegeben wurde. Er ist eine gute Adresse für dissidente Linke.
In dem Buch rechnet der langjährige Unterstützer des sandinistischen Nicaragua mit der formal sandinistischen Regierung des zentralamerikanischen Landes ab. Es ist eine furiose, sicher nicht immer gerechte Anklageschrift gegen die aktuelle Regierung in Nicaragua. Der unmittelbare Anlass für das Buch war die blutige Niederschlagung eines Aufstands in Nicaragua im April 2018. Schindler beginnt seine Anklageschrift mit dem Satz "Der 18. April 20108 markiert den Beginn einer neuen politischen Zeitrechnung in Nicaragua."
Es war der Tag, an dem Menschen starben, die an Protesten gegen die Regierung teilgenommen hatten. Für Schindler war das Ereignis der Anlass, seine schon vorher geäußerte Unzufriedenheit mit der politischen Entwicklung in Nicaragua in einem Buch zu bündeln und damit auch eine Diskussion in der Linken anzuregen, was denn links in Lateinamerika ist.
Mit dem Gesicht zum Volke - oder die Hoffnung Nicaragua
Schließlich gehörte in West- wie Ostdeutschland das sandinistische Nicaragua seit dem Sieg der Sandinisten 1979 zu den Sympathieträgern. Linke, die sich nie positiv auf die DDR oder andere nominalsozialistische Staaten in Osteuropa bezogen hätten, unterstützten Nicaragua. Auch in der DDR spielte das Land eine Rolle als Beispiel dafür, dass man die "eigenen" Fehler nicht wiederholen muss.
Als Alternative zum autoritären Staatssozialismus wurde Nicaragua auch von kritischen DDR-Linken gesehen. Es sei nur an das Lied "Mit dem Gesicht zum Volke" des DDR-Barden Gerhard Schöne erinnert, in dem es heißt:
Ach, kleines Nicaragua,
Aus: Gerhard Schöne, Mit dem Gesicht zum Volke
so stolz und so bedroht,
noch brauchst du fremde Hilfe,
sonst wär bald eine Hoffnung tot.
Zeitgleich schrieb der Liedermacher Walter Mossmann sein "Unruhiges Requiem" in Gedenken an den Freiburger Arzt Tonio Pflaum, der als Unterstützer des sandinistischen Nicaragua von den Contras ermordet wurde.
Alle meine Erinnerungsfotos gehen nicht zusammen mit dem Film, den mir die Christiane am Telefon erzählt hat:
Aus: Walter Mossmann, Unruhiges Requiem
"Es war im Norden von Nicaragua.
Sie haben einen Bus angehalten.
Sie haben vierzehn Menschen gezwungen, auszusteigen.
Dann haben sie alle vierzehn abgeknallt.
Einer von den vierzehn war der Tonio!"
Differenzierte Betrachtung der "linken Regierungen" in Lateinamerika
In den Zeilen von Schöne und Mossmann drückten sich die enormen Erwartungen aus, die viele in das kleine Land hineinprojizierten, die eigentlich nur enttäuscht werden konnten. Viele wenden sich ab und wollen mit dem ehemaligen Objekt der Begierde nichts mehr zu tun haben. Daher ist es sehr zu begrüßen, dass mit Matthias Schindler ein langjähriger Aktivist der Nicaragua-Solidarität ein Buch verfasste, um eine Diskussion anzuregen.
Schließlich ist auch in der lateinamerikanischen Linken eine heftige Auseinandersetzung um die Rolle der Ortega-Regierung entbrannt. Nach der blutigen Niederschlagung des Aufstands haben bekannte Linke aus verschiedenen Ländern Lateinamerikas erklärt, dass sie eine solche Regierung nicht mehr unterstützen können. Schindler hat auch ein wichtiges Buch geschrieben, weil er gerade nicht alle Linksregierungen Mittel- und Südamerikas verurteilt.
Vielmehr hat er sehr differenziert die Entwicklung Venezuelas beschrieben und wendet sich gegen die Versuche des Regime Change. Zudem versucht er zu begründen, warum sich die Situation in Nicaragua von der in Venezuela unterscheidet. Schindler erklärt dann, warum er für einen Rücktritt der Regierung in Nicaragua ist, aber solches nicht für Venezuela fordert. Diese Differenzierung Schindlers ist umso positiver zu bewerten, weil nicht nur die konservativen Gegner der Linken in den USA eine Verbindung zwischen Kuba, Venezuela und anderen linken Regierungen auf den amerikanischen Kontinent herstellen.
Auch die "linken Regierungen" bekunden sich ihre gegenseitige Solidarität. Schindler sieht den Grund darin, dass sich die isolierten Regierungen hier gegenseitig stützen wollen. Doch dabei unterschätzt Schindler, dass es ausgehend von der Bolivarianischen Allianz Venezuelas den Versuch eines Gegengewichts gegen die Dominanz der USA auf ökonomischen, politischen und kulturellen Gebiet gegeben hat.
Es war zunächst ein offensiver Versuch, eine Alternative zur kapitalistischen Globalisierung herzustellen. Vor 15 Jahren, als manche in Venezuela ein Modell für einen Sozialismus des 21. Jahrhunderts sehen wollten, hatten diese Bündnisbestrebungen durchaus einen globalen Aspekt. Das Alba-Bündnis (Bolivarische Allianz) hatte beispielsweise angeboten, günstiges Öl aus Venezuela in die armen Stadtteile von US-Metropolen zu liefern. Die Kontakte sollten auf kommunaler Ebene laufen. Auch der damalige linkssozialdemokratische Bürgermeister von London, Ken Livingstone, schloss damals mit Venezuela einen Deal für billiges Erdöl ab.
Heute sieht es aus, als würden sich hier nur noch einige isolierte Regierungen gegenseitig stützen. Das ist aber auch ein Zeichen für eine Solidaritätsbewegung in Deutschland, die ihre Sympathie sehr freigiebig vergibt und sie auch ganz schnell wieder entzieht. Wenn vor 15 Jahren in manchen linken Kreisen jede kritische Anmerkung zur Entwicklung in Venezuela schon fast als Verrat galt, ist heute manchen Linken jeder positive Bezug auf die Entwicklung in Venezuela in den letzten 20 Jahren ein Ausweis von altlinker Nostalgie.
Dabei wird schnell vergessen, dass in Venezuela eben erst mit dem Regierungsantritt von Chavez ein massiver Zuwachs von Stadtteilinitiativen und Organen der Selbstverwaltung von Unten zu verzeichnen war und dass Arbeiter, die ihre von den Eigentümern verlassenen Fabriken besetzten und unter ihrer Kontrolle weiterführten, von der Regierung Unterstützung bekamen.