Kommt alles noch viel schlimmer?

US-Wissenschaftler fordern einen Baustopp für Kohlekraftwerke

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Renommierte US-Klimaforscher sind nach einem Studium von Daten der Klimageschichte des Planeten zu der Ansicht gelangt, dass das Klimasystem empfindlicher als bisher gedacht ist. Die Menschheit könnte sich bereits gefährlich nah an einem Punkt finden, an dem der Masseverlust der arktischen und antarktischen Gletscher zu einem unumkehrbaren Prozess und ihr vollständiges Verschwinden nicht mehr aufzuhalten sein wird.

Der US-Klimaforscher James Hansen, Chef des Goddard Institutes for Spaces Studies der NASA, ist seit Jahrzehnten in der internationalen Wissenschaftlergemeinde eine Institution. Einen Namen machte er sich unter anderem mit der akribische Analyse Tausender Temperatur-Datensätze die von Wetterstationen aus aller Welt vorliegen. Sie bilden in der von Hansen und Kollegen bearbeiteten Fassung, die zum Beispiel die Effekte städtischer Wärmeinseln eliminiert, die Grundlage für die von der NASA berechneten Zeitreihe der globalen Mitteltemperatur. Neben einer ähnlichen Arbeit des britischen Hadley Centers ist das eine der wichtigen Referenzen für die Diskussion über den globalen Klimawandel.

Hansen ist einer jener Wissenschaftler, die den Vertretern von Öl-, Auto- und Kohleindustrie das Fürchten zu lehren scheint. Ein Mann, der die Zahlen und die Fakten liebt und wenig von Ideologie hält; einer, der sich nicht unbedingt in den Vordergrund drängt, sich aber auch den Mund nicht verbieten lässt. Schon gar nicht von seiner Regierung, deren zensierende Einmischungen in die Klimawissenschaft er kürzlich in einem Radiointerview beschrieb (siehe auch Maulkorb für US-Wissenschaftler).

Jetzt hat er mal wieder zugeschlagen. Gemeinsam mit einer ganzen Reihe von Kolleginnen und Kollegen anderer Institute legte Hansen eine umfangreiche Arbeit (PDF-Datei) vor, in der die diversen Wechselwirkungen im Klimasystem untersucht werden, die den Treibhauseffekt verstärken könnten. Die Wissenschaftler kommen darin zu dem Schluss, dass die Reduktion der Kohlendioxidemissionen wesentlich drastischer als bisher angenommen ausfallen müssen, wenn tatsächlich noch gefährliche Klimaveränderungen verhindert werden sollen, wie es in der UN-Klimaschutzrahmenkonvention seinerzeit schon vor 15 Jahren vereinbart wurde.

Was ist gefährlich?

Bisher gibt es keine allgemein anerkannte Definition des Begriffs „gefährliche Klimaänderungen“, aber die Auflösung der großen Eisschilde auf Grönland sowie der beiden Komplexe in der West- und Ostantarktis wäre sicherlich etwas, das ohne Zweifel den Tatbestand der gefährlichen Veränderung erfüllen könnte. Allein um sieben Meter würde das Grönlandeis den Meeresspiegel ansteigen lassen, sechs Meter wären es, wenn sich das westantarktische Eisschild auflöst, und gar mehrere Dutzend Meter, sollten sich die riesige Eismassen der Ostantarktis verabschieden. Letzteres ist allerdings unter den drei aufgezählten Eisschilden das stabilste.

Von vielen Wissenschaftlern war in den letzten Jahren zu hören, dass das vollständige Abschmelzen der drei großen Eisschilde so lange verhindert werden kann, wie die globale Temperatur nicht um mehr als 2 Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau (etwa 1,3 Grad Celsius gegenüber dem aktuellen Level) steigt. Dafür müsse die atmosphärische Konzentration der Treibhausgase auf 450 Millionstel Volumenanteile (ppm, parts per million) CO2-Äquivalente beschränkt werden.

Der gegenwärtigige Wert liegt bei etwas über 370 ppm, was zufällig recht nah bei der CO2-Konzentration liegt, aber nicht zu verwechseln ist. Allerdings ist bereits jetzt in Grönland und in der Westantarktis (siehe Lieber Wind als Agrarsprit) zu beobachten, dass sich seit einigen Jahren der Masseverlust der beiden dortigen Eismassen beschleunigt. Die Gletscher befinden sich nicht mehr im Gleichgewicht und es gibt keine gesicherten Kenntnisse darüber, wo ein neuer Gleichgewichtszustand bei den heutigen veränderten Rahmenbedingungen liegen könnte.

CO2-Äquivalente: Neben dem Kohlendioxid (CO2) haben auch Methan, bodennahes Ozon, eine Reihe von synthetischen Gasen wie die FCKWs sowie das Distickstoffoxid (N2O) einen nennenswerten erwärmenden Einfluss auf das Klima. Hinzu kommen noch die kühlenden Einflüsse von feinen Partikeln aus den Abgasen vor allem der Kohlekraftwerke. Das von diesen in großen Mengen emittierte Schwefeldioxid SO2 reflektiert Sonnenstrahlung und fördert die Bildung niedriger Wolken, die ebenfalls Sonnenlicht reflektieren. Alle diese Einflüsse werden der Einfachheit halber umgerechnet und in CO2-Äquivalente ausgedrückt, um ihre Klimawirksamkeit zu beschreiben (siehe Knappe Kohle).

Zu beachten ist dabei allerdings, dass die Lebensdauer der einzelnen Komponenten recht unterschiedlich ist. Wenn man die Quellen des CO2 verstopft, werden die ersten Auswirkungen erst in mehr als 100 Jharen zu spüren sein. Bodennahes Ozon und SO2 verschwinden hingegen innerhalb weniger Wochen aus der Atmosphäre, wenn ihre Quellen versiegen. Nun ist SO2 aber ein erhebliches Problem für die Pflanzenwelt (Stichwort saurer Regen) und die Atemluft, weshalb in den Hauptherkunftsländern Indien und China in den nächsten Jahren sicherlich Maßnahmen ergriffen werden, um die Kraftwerksabgase besser zu filtern. Damit wird sich der Druck, etwas in Sachen Klimaschutz erhöhen, weil ein kühlender Faktor weg fällt.

Hansen und Kollegen kommen daher zu dem Schluss, dass das 450-ppm-Ziel bereits viel zu hoch liegt. 350 ppm müssten langfristig angestrebt werden, um ein vollständiges Abschmelzen der Gletscher zu verhindern. Besorgt sind sie vor allem, weil es in der jüngeren Erdgeschichte wiederholt vorgekommen ist, dass der Meeresspiegel in Phasen der Erwärmung um mehrere Meter pro Jahrhundert gestiegen ist. Die höchsten bisher vom UN-Klimarat IPCC veröffentlichten Schätzungen für das Ende des 21. Jahrhunderts liegen hingegen bei 80 Zentimeter Anstieg, was für viele Küstenregion bereits sehr dramatische Folgen hätte.

Rückkopplungen

Der Ansatz der Klimaforscher um Hansen besteht darin, sich die verschiedenen Arten von Wechselwirkungen im Klimasystem genauer anzuschauen. Dabei unterscheiden sie zwischen langsamen Wechselwirkungen und schnellen. Letztere wie etwa die Zunahme des Wasserdampfgehaltes in der Atmosphäre, wodurch die Erwärmung verstärkt wird, oder die Veränderung der Wolkenbedeckung, die auch einen kühlenden Effekt haben könnte, sind in den Klimamodellen bereits berücksichtigt.

Unberücksichtigt bleiben bisher hingegen andere, relativ langsam wirkende Rückkopplungen. Beispiele dafür sind das Auftauen der Dauerfrostböden in der Arktis, durch die größere Mengen des Treibhausgases Methan in die Atmosphäre gelingen werden; oder die Veränderungen in der Reflektivität des Planeten, die durch die Erwärmung hervorgerufen wird. Zieht sich das Eis zurück, so wird mehr Sonnenenergie von Meer oder Erdboden aufgenommen.

Dass diese Faktoren noch nicht in die Modelle integriert sind, liegt übrigens nicht daran, dass sie noch keinem aufgefallen wären. Das Problem besteht eher darin, genug Informationen zu sammeln, um realistische mathematische Modelle dieser Vorgänge formulieren zu können, die dann in die Computersimulationen einfließen könnten. Die Gruppe um Hansen hat sich der Aufgabe daher von einer anderen Seite, mit einem Ausflug in die Vergangenheit genähert.

Sie hat die Daten über Treibhausgaskonzentrationen und veränderte Reflektivität zusammengetragen und aus ihnen eine kombinierte Klimawirksamkeit berechnet. Diese wird von den Forschern Antrieb (auf Englisch forcing) genannt und lässt sich in Watt pro Quadratmeter ausdrücken, ganz so, wie man das auch in der Betrachtung des aktuellen und künftigen Klimas macht. Oder mit anderen Worten, man kann es so ausdrücken, dass eine Verminderung der rückstrahlenden Eisfläche den gleichen Effekt auf das Klima hat, wie eine leichte Verstärkung der Sonneneinstrahlung.

Die Daten des Klimaantriebs wurden nun, nach dem die Autoren sichergestellt hatten, dass alle wesentlichen Komponenten berücksichtigt sind, mit denen der Vereisung verglichen. Heraus kam eine deutlich stärkere langfristige Empfindlichkeit des Klimasystems gegenüber Veränderungen der Treibhausgaskonzentration.

Ein weiteres Jahrzehnt ohne nennenswerten Klimaschutz reicht aus, um an den Polen einen irreversiblen Prozess in Gang zu setzen

Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass beim derzeitigen Stand der Treibhausgase noch 1,4 Grad Celsius Erwärmung „in der Pipeline“ sind. Das heißt, dass selbst wenn die CO2-Konzentration beim derzeitigen Stand gehalten werden könnte, würde es noch um diesen Betrag wärmer. Bisher war man aufgrund der Trägheit der Ozeane, die viele Jahrzehnte brauchen, um sich an die veränderten Bedingungen anzupassen, davon ausgegangen, dass im Falle der Stabilisierung auf aktuellem Niveau 0,6 Grad Celsius zusätzlicher Erwärmung zu erwarten sind.

Die Studie geht davon aus, dass angesichts des derzeitigen Wachstums der Emissionen schon ein weiteres Jahrzehnt ohne nennenswerten Klimaschutz ausreichen kann, um an den Polen einen – in menschlichen Zeiträumen – irreversiblen Prozess in Gang zu setzen, an dessen Ende die Eisschilde Grönlands und der Westantarktis (vielleicht sogar der Ostantarktis) verschwunden wären. Deshalb wird unter anderem – für Wissenschaftler ziemlich unverblümt – ein Stopp der Verbrennung von Kohle gefordert, so lange es keine Sequestrierung, das heißt Abscheidung und Einlagerung von CO2, gibt.

Außerdem werden Maßnahmen gefordert, mit denen der Atmosphäre CO2 entzogen werden könnte. Das könnte, so die Forschergruppe in einem ein kombinierten Programm aus Aufforstung und Bodenverbesserung bestehen, das nach ihrere Ansicht bis 2150 die CO2-Konzentration um 50 ppm veringern könnte. Dass wachsende Wälder Kohlenstoff binden, den sie in Form von CO2 der Atmosphäre entziehen.

Weniger bekannt ist die Möglichkeit, organisches Material durch Verschwelung zu einer Art Holzkohle zu machen. Wenn man diese zerkleinert und mit Erde vermischt, könnte nicht nur Kohlenstoff in größerer Menge für Jahrhunderte oder gar Jahrtausende gebunden werden, sondern zu gleich auch die derart behandelten Böden erheblich fruchtbarer gemacht werden. Holzkohle vermindert den Säuregehalt der Böden, durch ihre hohe Porosität dient sie als Wasserspeicher, sie fördert die Aufnahme wichtiger Mineralien im Boden und sie vermindert die Bildung von N2O, eines weiteren Treibhausgases, dass durch Mikroorganismen im Boden unter ungünstigen Bedingungen gebildet werden kann.