Kommt nach Nahles erneut Gabriel?
Die Chancen, dass die neue Vorsitzende das Grundproblem der Partei löst, stehen schlecht
Am Sonntag wählte die SPD Andrea Nahles zu ihrer neuen Vorsitzenden (vgl. Nahles zur SPD-Parteichefin gewählt). Begriffe wie "Wandel" und "Hoffnung" bringt man mit ihr selten in Verbindung. Exemplarisch sind eher Einschätzungen wie die folgende von Hugo-Müller-Vogg:
Die neue Vorsitzende ist eine gewiefte Politikerin. Sie beherrscht alle Machttechniken, weiß Bündnisse zu schmieden und Seilschaften zu nutzen. Aber beim breiten Publikum ist sie der Inbegriff einer Parteifunktionärin, die als Erwachsene keinen einzigen Tag außerhalb der Politik verbracht hat. Zudem wirkt sie mit ihren infantilen Ausbrüchen à la 'Bätschi', 'Kacke' und 'in die Fresse' nicht seriös.
Entsprechend wenig Besorgnis hat Nahles' Wahl bei den Konkurrenzparteien ausgelöst. Der AfD-Bundestagsabgeordnete Uwe Junge twitterte beispielsweise: "Wer eine Nahles zur Parteivorsitzenden wählt, ist kein Gegner mehr, sondern nur noch ein politisches Opfer." Eine Civey-Erhebung in der Welt, in der gestern 35,15 Prozent der Teilnehmer meinten, ihre Bereitschaft, SPD zu wählen, sei mit Nahles' Wahl gesunken, während im Gegenzug zur 5,2 Prozent angaben, sie sei gestiegen, scheint ihm da tendenziell recht zu geben.
Die Probleme der SPD nur an Nahles festzumachen, wäre dennoch eine Diagnose, die zu kurz greift. Mehr als eine Ursache ist die Bundesvorsitzende mit der schrillen Stimme ein Symptom des Grundproblems der Partei: einer Diskrepanz zwischen Wähler- und Funktionärswillen. Daran hat die SPD auch mit dem Führungswechsel nichts verändert. Ihre Funktionäre äußern sich weiter genauso weltfremd wie zuvor. Der eng mit Nahles vernetzte Karl Lauterbach twitterte beispielsweise am Sonntag:
Gerade mit Eurowings von Köln nach Tegel geflogen. Zuerst unhöfliche Aufforderung[,] ich soll zeigen[,] wie [der] Hebel am Notfallsitz aufgeht. Hätte fast aufgemacht. Dann 'nur ein Getränk' im 'Smarttarif', Kaffee nur halb voll. Wo bleibt die Konkurrenz?
Nach dieser Steilvorlage antwortete ihm ein Bürger:
Gerade SPD gewählt. Zuerst unhöfliche Aufforderung[,] ich soll zeigen wie Arbeiten bis 70 geht. Hätte [ich] fast gemacht. Dann 'nur ein Rentenniveau von 46 %' im 'Agenda2010-Tarif', Lebensstandard nur halb voll. Wo bleibt die Konkurrenz?
Ähnliche Reaktionen löste der Berliner SPD-Bürgermeister Michael Müller mit seiner nach einer Debatte über die Sicherheit im öffentlichen Nahverkehr (vgl. "Willst du eins auf die Fresse?") und einem antisemitischen Angriff auf einen Kippaträger abgegeben Äußerung aus, Bürger, die in der von ihm und seiner Partei regierten Hauptstadt Angst hätten, sollten sich halt ein Taxi nehmen. "Wenn dem Pöbel der Weg zwischen seinen seinen beiden Halbtagsjobs zu unsicher ist, soll er eben den Butler anweisen, den Chauffeur mit dem Bentley zu schicken - Ich mag bodenständige und volksnahe Politiker mit Blick fürs Wesentliche", meinte der für sarkastische Scherze bekannte Twitter-Nutzer Darth Monchichi dazu.
Auf Müllers abgehobenen Umgang mit einem wichtigen Alltagsproblem von Leuten, die früher Kernwähler der Sozialdemokraten gewesen wären, gab es nicht nur in Sozialen Netzwerken Kritik, sondern auch aus den anderen Parteien. Der FDP-Politiker Marcel Luthe nutzte die Gelegenheit, darauf hinzuweisen, es sei "Kernaufgabe des Staates [...], für die Sicherheit der Bürger zu sorgen." "Wenn die SPD glaubt, das nicht zu schaffen", so Luthe, dann sei sie "nicht regierungsfähig".
Zwei Wirklichkeiten
Einen "Kontrollverlust des Staates" konstantiert aber nicht nur er, sondern bemerkenswerterweise auch Sigmar Gabriel. Der vorletzte SPD-Bundesvorsitzende griff bereits vor Müllers Taxi-Äußerung im Tagesspiegel auf Alain Finkielkrauts Definition von "politischer Korrektheit" zurück, der zufolge sie praktisch bedeutet, "nicht sehen zu wollen, was zu sehen ist":
So verstanden ist political correctness also weder ein zivilisierter Sprachgebrauch noch ist die Kritik an ihr gleichzusetzen mit der Missachtung gesellschaftlicher Normen und Wertvorstellungen. Sondern es geht um Wirklichkeitsverweigerung. Um das Schließen der Augen vor unbequemen Realitäten aus Sorge, falsch verstanden zu werden, Beifall von der falschen Seite zu bekommen, aus Mutlosigkeit oder Rücksichtnahme und leider oft auch aus Gleichgültigkeit.
"Wir", so Gabriel für die Sozialdemokratie oder die politische Klasse allgemein, "sind diesen Teilen der deutschen (und europäischen) Wirklichkeit zu lange ausgewichen":
Nicht zuletzt weil der größere Teil der politischen, wirtschaftlichen und medialen Eliten dieser Wirklichkeit im eigenen Lebensalltag nicht begegnet. Das war bequem für uns und für die, die wir haben gewähren lassen. Und immer unbequemer für die, die in ihrem Lebensalltag nicht die Chance hatten, auszuweichen.