Konflikt und Krisis: Partizipativer Umgang mit Massenmedien

Head Canon: Medien im epikritischen Zeitalter - Teil 3

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Im letzten Teil dieser Essay-Reihe wurde am Beispiel der Serie Star Trek Discovery der Kanon-Begriff behandelt ("Sie haben uns angelogen") . Es ging um den von Fans gemachten Vorwurf, dass der Star Trek-Kanon durch die neue Serie missachtet würde. Die Wartezeit bis zur gerade gestarteten zweiten Staffelhälfte wurde durch Interviews und Stellungnahmen der Darsteller und Produzenten überbrückt. Darin wurde erneut betont, dass echte Kanon-Experten an der Serie arbeiten würden. Solche Statements erzählen eine Geschichte, die eine Rechtfertigung des eigenen kritisierten Handelns aufbaut. Einer Erzählung ("der Kanon wird missachtet!") wird eine andere entgegengestellt ("nein, wird er nicht!")

Meine eigene Geschichte - diese Essay-Reihe - wendet sich nun nicht-fiktionalen Geschichten zu, aber unter ähnlichem Gesichtspunkt. In massenmedialen Nachrichtenbeiträgen, Reportagen und Kommentaren werden erstens konkrete Ereignisse erzählt und zweitens übergreifende Narrative erschaffen, fortgeschrieben oder in Frage gestellt.

Dies kommt im Klischee des "rasenden Reporters" zum Ausdruck, der seiner "Story" nachjagt. Manchmal stellen sich diese Geschichten als ungenau, falsch oder einfach nicht zu den Erwartungen der Rezipienten passend heraus, was zu Kritik und dann Rechtfertigung und Erklärung führen mag. Besonders prägnant lässt sich das an großen politischen Konfliktlinien beobachten, wo den Medien mitunter nur ein unbewusstes Richten nach einem Mainstream vorgeworfen wird, manchmal aber auch bewusstes Verschleiern und eindeutiges Lügen, um irgendwelchen politischen Interessen zu dienen.

III.1 Die New York Times und der Irak

Vor dem letzten Irakkrieg (Dritter Golfkrieg) veröffentlichte die US-Journalistin Judith Miller eine Reihe von Artikeln in der New York Times (NYT), in denen sie über Massenvernichtungswaffen in den Händen des damaligen irakischen Diktators Saddam Hussein berichtete. Laut Millers 2015 rückblickend vorgelegtem Buch "The Story"1 speisten sich Millers Artikel aus Ausgaben, die sie von Informanten aus der damaligen irakischen Opposition erhielt, insbesondere dem damals im Exil lebenden Ahmad al-Dschalabi, sowie auf Kontakte in US-amerikanischen Geheimdiensten.

In einem Artikel Millers ging es um Aluminiumröhren, denen eine mögliche Funktion bei der Herstellung von Atomwaffen zugeschrieben wurde. Die US-Regierung nutzte unter anderem diesen Bericht als Rechtfertigung für ihr militärisches Eingreifen im Irak. Die Rolle der Röhren war jedoch nicht so klar, wie der Artikel glauben machte. Stattdessen gab es unterschiedliche Einschätzungen der US-Geheimdienste. Einige Experten glaubten, die Röhren seien ungeeignet, atomwaffenfähiges Uran anzureichern; andere Experten behaupteten das Gegenteil.

Millers Zeitungsartikel trug dazu bei, in den Röhren eine Gefahr zu sehen und die damalige US-Regierung zu überzeugen, militärisch einzugreifen. Auch Teile der bekannten Rede des damaligen Außenministers Colin Powell vor den Vereinten Nationen am 5. Februar 2003 (die er mittlerweile als großen geheimdienstlichen Fehler bezeichnet2) beziehen sich auf diese Röhren.3 Miller selbst ging 2003 als "Embedded Journalist" in den Irak, um unter anderem die Suche nach den vermuteten Waffen zu begleiten.

Nachdem nichts Entscheidendes gefunden wurde und sich später auch die Berichte bezüglich der Aluminiumröhren als falsch herausgestellt hatten, entschuldigte sich die NYT am 26. Mai 2004 in einem großen Aufmacher für die Berichterstattung.4 Darin zeigten sich die Herausgeber selbstkritisch. Nicht nur die Autoren der Artikel hätten die Angaben ihrer Quellen besser prüfen müssen; auch die Redaktionen und Herausgeber hätten die Artikel ihrer Autoren hinterfragen müssen, was zu selten geschehen sei. Auch seien Artikel, die Gegenpositionen enthielten, immer wieder zu weit hinten im Blatt versteckt gewesen. Die Herausgeber ergänzten ihre Kritik mit einer thematisch sortierten Sammlung mehrerer Artikel, wohl auch um zu belegen, dass tatsächlich Gegenpositionen erschienen waren.

Judith Miller verließ 2005 die Zeitung. Zehn Jahre später veröffentlichte Miller das erwähnte Buch "The Story", in dem sie die Zusammenhänge um die Irak-Berichterstattung aus ihrer Sicht erzählte. Sie wies auf großen Zeitdruck hin, unter dem die Artikel entstanden. Sie führte weitere von ihr veröffentlichte Texte an, in denen sie auch auf andere Sichtweisen hingewiesen hätte, die aber wenig prominent nur im Innenteil der Zeitung gedruckt gewesen seien. Sie betonte letztlich mehrfach, dass sie stets die Grundsätze journalistischer Neutralität geachtet hätte.

Eine Rezension, die zu Millers Buch in der NYT erschien, nahm ihre Rechtfertigungen eher negativ auf. Miller hätte sich vor allem auf die Position zurückgezogen, nur berichtet zu haben, was ihre Quellen ihr berichtet hatten. Dies wäre zu wenig gewesen.

III.2 Kritik von außen

Die Miller-Story ist ein Vorgang, der noch ganz traditionell innerhalb des Systems der Massenmedien (System im Sinne Luhmanns) stattfand. Im vorigen Teil dieser Essay-Reihe wies ich auf die typische Struktur medialer Kritik hin. Ich beschrieb sie als einfache kommunikative Sequenz aus (1) Erzählung, (2) Stellungnahme zur Erzählung und (3a) Relativierung der Stellungnahme bzw. (3b) Zustimmung zur Stellungnahme.

Im Fall Millers fanden sowohl die Erzählung (die in eine bestimmte politische Richtung weisende Irak-Berichterstattung der NYT), die Stellungnahmen (Kritik an der Berichterstattung), die Relativierung der kritischen Stellungnahmen (durch Fortsetzen der Berichterstattung in der eingeschlagenen Richtung) sowie später die zunehmende Zustimmung zu den kritischen Stellungnahmen (durch mehr und mehr gegenläufige Berichterstattung) innerhalb massenmedialer Strukturen statt.

Die Leserinnen und Leser dieser Artikel blieben weitgehend außen vor, anders als heute wurden die jeweiligen Texte nur gleichsam archivarisch ins Internet gestellt, ohne dass dort eine direkte Interaktion mit Rezipienten via Kommentarbereichen vorgesehen war. An der Irak-Berichterstattung der NYT kann man beobachten, wie das System der Massenmedien mit Störungen umgeht: wie es labil wird, sich ausdifferenziert und sich wieder stabilisiert. Die Frage ist, ob so etwas heute immer noch so abliefe.

Die Miller-Story steht in dieser Essay-Reihe nämlich auch stellvertretend für die Beobachtung, dass Beiträge in den Massenmedien nur Angebote von Produzenten an mehr oder weniger genau einschätzbare Rezipienten sind, die unter bestimmten Kontexten funktionieren oder scheitern. Systemtheoretisch gedacht, sind Produzenten und Rezipienten je eigene Systeme, die füreinander Umwelt darstellen und die aneinander nur durch Leistungsbeziehungen, sog. strukturelle Kopplungen, gebunden sind.

Daher liegen Widersprüche oft nahe: Je nach Standpunkt liegen womöglich andere Interpretationen desselben Ereignisses vor. Vielleicht werden auch Lücken in den Erzählungen wahrgenommen. Oder die berichteten Fakten selbst werden wie im Fall Miller als falsch erkannt. In diesen Fällen passen die von den Systemen füreinander erbrachten Leistungen nicht zueinander. Um diese Beziehung zu klären, kommt es zu Beobachtungen zweiter oder n-ter Ordnung, also Kritik, Gegendarstellungen, u.ä.

Wollten Rezipienten früher andere Interpretationen anbieten, Lücken füllen oder Fehler korrigieren, blieb der langsame und mühsame Weg des Leserbriefs, ggf. die juristisch wirksame Gegendarstellung, oder die Entscheidung, selbst massenmedial tätig zu werden. Bekanntlich hat sich das mit dem Internet sehr verschoben.

Klassische Leserbriefseiten in Printmedien gibt es zwar immer noch, aber selbst die werden durch Kommentare aus Online-Beiträgen oder verknüpfte Facebook-Postings dominiert. Online ist schon die bloße Anzahl der Kommentare nicht zu vergleichen mit früheren Zeiten, ihre Spontanität und Schnelligkeit sind es ebenso nicht, und auch ihre gegenseitige Bezugnahme - wobei der Ursprungsbeitrag, unter dem die Kommentare stehen, oft schnell in den Hintergrund tritt - hat eine früher unbekannte Qualität.

Beobachtet man die Medienlandschaft der letzten fünf bis zehn Jahre, dann gewinnt man den Eindruck, dass sich insbesondere traditionelle Massenmedien an diese Neuerungen erstmal gewöhnen mussten und dafür unterschiedliche Strategien gefunden haben. Bei der Tagesschau etwa wurde das frühere Diskussionsforum durch Kommentarbereiche unter Artikeln ersetzt, dazu kam ein Blog der Redaktion, in dem bestimmte Entscheidungen der Redaktion erklärt werden, etwa zur Auswahl von Bildern.

Bei den Online-Angeboten von SPIEGEL (SPON) und Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) werden bestimmte Themen (z.B. zu Flüchtlingsfragen) nicht zum Kommentieren freigegeben, und SPON legt offenbar Wert auf das seriös-politisch klingende Wort "Debatte".5 Die Süddeutsche Zeitung spricht ebenfalls von Debatten, beschränkt diese seit 2015 auf einige Themen pro Tag (Leserdiskussionen) und lagert gewöhnliche Kommentare zurzeit auf Disqus aus.

Bei der ZEIT ist Kommentieren auch unter kontroversen Beiträgen immer möglich, wenngleich mit einer im Zweifel konsequent tätigen Moderation. Die tageszeitung (taz) hat in ihrem Blog mit ihren Lesern schon vor Jahren diskutiert, wann Kommentare zu löschen wären. Die sich als "Meinungsmedium" bezeichnende, linksgerichtete Wochenzeitung Der Freitag hat einen großen Communitybereich, der Leserkommentare und Leserblogs vereint. Die rechtsgerichtete Junge Freiheit, die sich "Wochenzeitung für Debatte" nennt, lässt nur Kommentare von Abonnenten der Printausgabe zu. Unter Artikeln des sozialistischen Neues Deutschland schließlich lässt sich lediglich ein Formular zum Absenden von Leserbriefen einblenden.

Es geht im Folgenden nicht um das Für und Wider bestimmter technischer Lösungen zur Partizipation oder um rein pragmatische Gründe (z.B. ökonomischer Art), warum manche Medien Kommentare zulassen, manche nur eingeschränkt und manche gar nicht. Es geht um die kommunikative Funktion, die abgegebene Kommentare in Zusammenhang mit den kommentierten Beiträgen haben, und die Funktion, die sie hinsichtlich Partizipation an massenmedial erzeugten Diskursen erfüllen. Und da zeigt sich, dass Äußerungen der Rezipienten von Medienberichten heute eine ähnlich große Wirkung auf massenmedialen Systemerhalt haben können wie die oben skizzierten Vorgänge zur Irak-Berichterstattung der NYT - nur eben von außerhalb des Systems der Massenmedien stammend.

III.3: Die Tagesschau und die Ukraine

Vor drei Jahren, vom Frühling bis Herbst 2014, geschah etwa bis dato ganz Ungewohntes, das auch heute noch als exemplarisch für die bis hierher skizzierten Vorgänge gelten kann. Nach umfassender Zuschauerkritik an der Berichterstattung der ARD-Nachrichtensendung Tagesschau über die damaligen Vorgänge in der Ukraine schloss sich auch der ARD-Programmbeirat dieser Kritik an.

Teilweise konnten diese Vorgänge im Blog der Tagesschau beobachtet werden. Kai Gniffke, der Chefredakteur von ARD aktuell, zog darin am 29. September 2014 eine Zwischenbilanz zur Ukraine-Berichterstattung in der Tagesschau (mittlerweile offline6). Als Reaktion auf Kritik von Zuschauern und Programmbeirat räumte Gniffke Versäumnisse ein, etwa hinsichtlich der Akzentuierung bestimmter Themen und Sichtweisen und des Erkennens möglicherweise manipulierter Informationen. Insgesamt, so Gniffke, "widersprechen [wir] aber ganz energisch den Vorwürfen einer gezielten Desinformation oder beabsichtigen Manipulation von Informationen in der Tagesschau." Wenige Tage später, am 2. Oktober 2014, schrieb Gniffke einen weiteren Beitrag, in dem er sich für einen Fehler in der Berichterstattung entschuldigte. In einem Bericht im Mai 2014 seien Schützen fälschlich der Seite der prorussischen Separatisten zugeordnet worden. Einen Tag später ging auch der Autor des fraglichen Berichts, Udo Lielischkies, persönlich auf den Fehler ein.

Ähnlich wie die New York Times im Fall ihrer Irak-Berichterstattung in den Jahren 2003 bis 2004 übte sich auch hier ein großer, angesehener Vertreter des Systems der Massenmedien in Selbstkritik und Rechtfertigung; die vorgebrachten Argumente ähnelten denen der NYT-Herausgeber. Systemtheoretisch war in den Dialogversuchen der Tagesschau-Redaktion der Versuch eines Systems zu beobachten, vom System beobachtete Störungen (die den Status des Systems gefährdende Kritik) so zu verarbeiten, dass sich das System wieder stabilisieren konnte. Doch anders als noch bei der NYT war der Fall für die Tagesschau nicht so einfach erledigt.

Denn viele Rezipienten ließen sich von Gniffkes und Lielischkies Statements nicht weiter beeindrucken. Zum einen wurde in über 500 Leserkommentaren Gniffke eine "herablassende Attitüde" vorgeworfen, die "an […] die SED im Osten" erinnere. Gniffke betone, so ein Leser, "wortreich Selbstverständlichkeiten", die man "schlicht erwarte. Und zwar ohne larmoyanten Tonfall."

Zum anderen wurden in den Kommentaren eine Reihe weiterer scheinbarer Grenzfälle der Berichterstattung diskutiert, inbesondere ein Tagesthemen-Bericht über eine Demonstration von Regierungsanhängern. In den entsprechenden Beiträgen kam das Grundproblem der gesamten Debatte deutlich zum Vorschein. So kommentierte ein Leser von Gniffkes erstem Blogbeitrag:

Hallo Herr Gniffke, danke für Ihre Selbstkritik. Hoffentlich ein guter Anfang. Dann schauen Sie sich bitte noch einmal die Berichterstattung von Herrn Lielischkies zum "Protesttag" von Herrn Achmetow am 20. Mai 2014 in Donetsk an mit den angeblichen "zehntausenden Menschen" (Frau Miosga) im Stadion der Stadt. Vergleichen Sie dann bitte die Bilder von anderen Quellen aus dem Stadion (youtube z.B.), die bestenfalls einige hundert Teilnehmer zeigen. Das war in meinen Augen eine schlimme Falschinformation seitens der Tagesschau/Tagesthemen. […]

Kai Gniffke beteiligte sich im Kommentarbereich an der Diskussion und ging direkt auf diesen Leser ein:

Wir haben nie behauptet, dass im Stadion "Zehntausende" Menschen waren. Schließlich haben wir dann ein ziemlich leeres Stadion gezeigt (nicht nur bei YouTube). Landesweit waren es tatsächlich Zehntausende - vor allem Mitarbeiter von Achmetow - und genau das haben wir gesagt.

Diese Erklärung Gniffkes wurde jedoch scharf zurückgewiesen:

Genau das ist Ihr Problem. Sie kommen damit nicht mehr durch. Der Bericht über das Stadion und die Texte dazu kann sich jeder anschauen. […] Der Bericht war so gemacht (und zwar in voller Absicht!), dass Zuschauer, die sich nicht täglich mit den Hintergründen beschäftigen und viele Quellen auswerten, sondern nur einmal abends eine Nachrichtensendung einschalten, den Eindruck gewinnen MUSSTEN, das Stadion sei voll von Protestlern und es gebe dort ein große anti-russische Mehrheit. Dafür sorgten u.a. die manipulativen Bildausschnitte. […]

Ähnlich ein weiterer Leser:

Sie haben kein leeres Stadion gezeigt. Sie haben vielmehr den Bildausschnitt so gewählt, das die rund 300 formatfüllend ins Bild gesetzt wurden. Sie behaupten "Landesweit waren es tatsächlich Zehntausende", Bilder davon zeigen Sie jedoch nicht. Warum?

Auffällig ist an dieser Debatte erstens, dass es früher undenkbar schien, dass sich die deutsche Institution des Fernsehjournalismus gegenüber - sich teils geradezu anklagend gebenden - Zuschauern und Lesern rechtfertigen und erklären muss. Auch früher schon gab es Kritik am öffentlich-rechtlichen Fernsehen, insbesondere wurde die parteipolitische Neutralität von ARD und ZDF angezweifelt (nach dem Schema: ARD links, ZDF rechts). Auch offensichtliche Fehler mussten schon richtiggestellt werden. Doch scheinbar waren im Herbst 2014 die Vorwürfe der Manipulation, Desinformation und Propaganda inzwischen so umfassend, dass ein Statement von oberster Stelle nötig schien.

Wieder in den Begriffen der kommunikativen Sequenz ausgedrückt: (1) Zur Erzählung (Ukraine-Berichterstattung) kamen (2) kritische Stellungnahmen diesmal nicht nur von anderen massenmedialen Akteuren (Programmbeirat, andere Massenmedien), sondern von Rezipienten außerhalb des traditionellen Systems der Massenmedien (in ihren zahlreichen Kommentaren), worauf (3) Relativierungen der Stellungnahmen folgten (die rechtfertigenden Blogbeiträge der Tagesschau).

An dieser Stelle ist der Unterschied zu früher zu beobachten: Im Fall der NYT fand die gesamte Sequenz innerhalb des Systems der Massenmedien statt, der Konflikt wurde im System bearbeitet. Im Fall der Tagesschau verlagerte sich der Konflikt auf die Beziehung von System und Umwelt. Mitverantwortlich war sicher die gewählte Form. Die NYT nutzte die klassische, nur in ganz besonderen Fällen gewählte Form eines Beitrags der Herausgeber. Die Tagesschau verwendete hingegen ihr bereits vorhandenes Blog, das per se ein partizipatives Format ist, dem man auch eine persönlichere Note zuschreibt.

Funktion und Format der Rechtfertigung standen damit für eine neue Qualität der Interaktion zwischen massenmedialen Akteuren und ihrer Rezipienten. Es ging in den Blogeinträgen und den Kommentaren gar nicht nur um die Sache selbst, sondern auch um Produzenten und Rezipienten als konkrete Akteure mit je individuellen Weltbildern und entsprechenden Selbst- und Fremdwahrnehmungen. Nicht der Ukraine-Konflikt als Ereignis erster Ordnung war Thema, sondern ein Konflikt zweiter Ordnung zwischen Produzenten und Rezipienten stand im Zentrum.

Die Tagesschau-Redaktion musste sich seitdem immer wieder mit kritischen Kommentaren auseinandersetzen. So kam es nach den Ukraine-Vorgängen bald zu einem weiteren, ähnlich gelagerten Fall. Am 15. November 2014 berichtete die Tagesschau vom damaligen G20-Gipfel in Brisbane und illustrierte dies mit einem Foto, das den russischen Präsidenten Wladimir Putin allein an einem Tisch zeigte. Sie erweckte damit den Eindruck, dass Putin unter den anderen anwesenden Staatschefs isoliert wäre ("einsam und verlassen", so die Bildunterschrift). Der Medienjournalist Stefan Niggemeier und in der Folge andere Massenmedien wiesen danach darauf hin, dass neben Putin auch die damalige brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff an dem Tisch saß.

Kai Gniffke verfasste darauf einen Blogbeitrag, indem er die Bildauswahl und Bildunterschrift rechtfertigte: "Nun weiß ich nicht, wie es Ihnen geht, wenn Sie auf einer Party am 8er-Tisch sitzen und links und rechts neben Ihnen jeweils drei bzw. zwei Stühle frei bleiben. Ich nenne das einsam und verlassen. Ob mit oder ohne Rousseff, mit oder ohne Kellner, das Bild erzählt genau diese Geschichte: Putin ist isoliert."7

Zum emotionalen Höhepunkt dieser Blogreihe kam es 2015 nach den Terroranschlägen in Paris. Die Tagesschau berichtete über eine Demonstration, an der augenscheinlich auch viele bekannte Politiker teilnahmen. In der Berichterstattung waren Bildausschnitt und Wortlaut so gewählt, dass der Eindruck entstand, Politiker und sonstige Bürger marschierten bei der Demonstration als ein gemeinsamer Block. Später wurde bekannt, dass es sich um zwei aus Sicherheitsgründen getrennte Blöcke gehandelt hatte. In der Folge machte, auch massenmedial, die Erzählung der "Verschwörung von Paris" die Runde, und Kai Gniffke sah sich erneut in der Situation, die Berichterstattung seiner Nachrichtenredaktion zu erklären - wobei er recht emotional wurde: "Auch auf die Gefahr hin, dass ich jetzt wieder richtig auf die Fresse bekomme: Mir langt's."8

III.4: Die Wandlung des Gatekeepers

Die fortgesetzte Tagesschau-Kritik zeigt stellvertretend, dass ein klassischer Begriff der Journalismustheorie, der "Gatekeeper" (Torwächter), heute eine andere Bedeutung hat.

Das Gatekeeper-Paradigma beschrieb traditionellen redaktionellen, professionell (im Sinne von beruflich, zunächst unabhängig von der durch Rezipienten wahrgenommenen Qualität) ausgeführten Journalismus. Journalisten als Gatekeeper kontrollieren den Zugang zu Massenmedien, die hinsichtlich Verbreitung und Kapazität eingeschränkt sind: Die Auflagenzahl oder Sendereichweite einerseits und der Umfang einer Printausgabe oder die Dauer einer Sendung andererseits sind begrenzt. Es können weder alle denkbaren Rezipienten erreicht werden, noch können beliebig viele Themen in umfassender Fülle untergebracht werden. Redaktionen müssen entscheiden, was sie unter diesen Bedingungen berücksichtigen und was nicht.

Für den Kommunikationswissenschaftler Christoph Neuberger ist daher "redaktionelle Arbeit eine Art Mangelverwaltung"9; den traditionellen Journalismus bezeichnet Neuberger als "Notlösung"10

Bei besonders bedeutsamen, exklusiven Meldungen (den "scoops") können nach dem Auswahlprozess ganze Narrative entstehen, die in sich konsistent wirken und über längere Zeit durchgehalten werden: Nach der ersten Meldung muss nachgelegt, muss belegt werden, um den exklusiven Status der Meldung weiter zu begründen und damit auch die Rolle des jeweiligen Massenmediums zu festigen, etwa als besonders investigativ und vertrauenswürdig. Damit kann ein ganzer Kanon an Texten entstehen, der auch für andere gesellschaftliche Teilsysteme, insbesondere das politische System, unumstößlich wird - wie im Fall der Irak-Berichterstattung der New York Times.

Die NYT-Redaktion hatte sich damals dafür entschieden, Artikel prominent auf Seite eins zu platzieren, die dem Narrativ folgten, dass es im Irak Massenvernichtungswaffen gäbe; Artikel, die Zweifel an diesem Narrativ weckten, wurden weiter hinten im Blatt gedruckt. Erstere bestärkten Akteure des politischen Systems in ihren Entscheidungen für ein militärisches Eingreifen.

Die Entscheidung, diese und nicht die anderen Berichte hervorzuheben, war einerseits ein pragmatischer Umgang mit dem begrenzten Angebot in einer Ausgabe (die NYT-Herausgeber sprachen in ihrer Rechtfertigung selbstkritisch davon, dass man als Zeitung an "scoops" interessiert sei). Andererseits droht damit aber von Seiten der Rezipienten "der Argwohn, dass sie [die Gatekeeper] ihre machtvolle Position missbrauchen könnten".11

Die Kritik an der Irak-Berichterstattung der NYT war von diesem Misstrauen gespeist. Insbesondere Judith Miller wurde wegen ihrer früheren Arbeiten und ihrer Kontakte zu Ahmad al-Dschalabi unterstellt, eine politische Agenda zu verfolgen, die einen Regimewechsel im Irak zum Ziel hatte. Doch wie erwähnt, kam diese Kritik noch aus dem System der Massenmedien selbst und wurde darin bearbeitet.

Das andere Fallbeispiel, die Kritik an der Tagesschau-Berichterstattung, lief auf einer anderen Ebene ab. Nicht andere Akteure des Systems der Massenmedien, sondern die Rezipienten waren Urheber einer Kritik, die so stark war, dass sich die Redaktion nicht in einer distanzierten Erklärung (wie damals die NYT-Herausgeber) äußerte, sondern das Blog nutzte, und darin sogar auf einzelne Kommentare direkt einging.

Aufgrund der lange Zeit ritualhaft hervorgehobenen Stellung der Tagesschau war dies etwas Besonderes: Während der Linguist Ulrich Schmitz noch 2008 behaupten konnte, dass die Sendung "den Zuschauern durch ihre sprachliche Kontinuität Trost [spende]" und sie, so Schmitz in einem Aufsatz 1995, "monumentale Orientierungs-Wünsche in der unüberschaubaren Hektik des täglichen Einerlei [befriedige]"12, wird diese Stellung heute angegriffen. "Sie kommen damit nicht mehr durch", schrieb ein Leser unter Kai Gniffkes Ukraine-Blogeintrag, und obwohl sich das auf den konkreten Fall Ukraine-Berichterstattung bezog, so kann man diese Aussage auch auf das gesamte traditionelle, am Gatekeeper-Journalismus orientierte System der Massenmedien beziehen.

Der Gatekeeper wird zunehmend weniger akzeptiert. Dass das Internet in dieser Hinsicht wirksam sein kann, wird in der Kommunikationswissenschaft schon lange diskutiert; mit dem Gatewatcher-Paradigma liegen auch Ideen für alternative Zugänge zur Analyse journalistischer oder Journalismus-ähnlicher (also berichtender, einordnender, kommentierender) Aktivität vor.13 Neu sind heute zwei Dinge:

Erstens blieben alternative Zugänge relativ lange Theorie und konzentrierten sich um die Jahre 2004 bis 2007 auf die damals noch als "Neue Medien" bezeichneten oder unter "Web 2.0" zusammengefassten Entwicklungen, also auf Blogs und Podcasts als mögliche Alternativen zu Zeitung, Radio und Fernsehen. Am Horizont war zwar eine "Blogosphäre" sichtbar, ihre Auswirkungen schienen aber weit weg.

Doch die an Beispielen wie der Tagesschau so paradigmatisch sichtbaren und heute immer wieder unter jedem online veröffentlichten Artikel beobachtbaren Phänomene sind die Zuspitzung eines Konfliktfelds, das sich damals schon abzeichnete. Konflikte in diesem Feld werden aber nicht in erster Linie institutionell getrennt ausgetragen (etwa in individuell betriebenen Blogs als Alternativmedien), sondern in den Kommentarbereichen der Medien selbst, sofern das - siehe oben - möglich ist.

Skepsis an Medien und Produktion von Alternativen sind dadurch mitten "unter uns", und Rezipienten und Produzenten traditioneller Medien werden permanent mit alternativen Sichtweisen konfrontiert. Faktisch ist der Gatekeeper online machtlos geworden; es liegt in der individuellen Entscheidung der Rezipienten, ob sie eher dem Medium glauben oder den widersprechenden Kommentaren.

Dass sich online Alternativen durchsetzen, hat zweitens auch Auswirkungen auf den traditionellen Zeitungs- und Zeitschriftenmarkt. Neben dem vielbeklagten Sterben von Printmedien oder Versuchen, Print und Online zu verzahnen (sei es durch Abdrucken von Kommentaren, sei es durch Print-Abozwang, um kommentieren zu können), ist auch das Aufkommen neuer Printangebote festzustellen, die nicht etwa versteckt als Special Interest angeboten werden, sondern sich als deutlich sichtbare Alternativen zu etablierteren Angeboten aufdrängen.

Diese Alternativen bedienen dieselben Sichtweisen, die sich auch online ausbreiten. In den Filialen großer Buchhandlungsketten steht dann der KOPP-Verlag neben Suhrkamp und Compact neben Spektrum der Wissenschaft. Tichy's Einblicke schauen auf die SZ Langstrecke herab, während die FAZ Quarterly von CATO flankiert wird. Und im LOTTO-Laden teilt sich die Junge Freiheit einen Zeitungsständer mit Junge Welt, BILD und Neues Deutschland. Mit diesem neuen Medienmix (denn so prominent wie heute waren gerade rechtsgerichtete Publikationen lange nicht) übt der Gatekeeper seine Funktion offline noch aus. Die Magazine und Zeitungen präsentieren nach wie vor eine professionelle, d.h. berufsmäßig getroffene Auswahl von Berichten auf begrenztem Raum - doch aus Rezipientensicht ist das Angebot vielfältiger geworden.

Für jedes heute diskutierte Weltbild gibt es mehrere Medien, die es stützen und Nachrichten passend filtern, aufbereiten und kommentieren. So wie im Internet gibt es auch im Printbereich nicht mehr den einen Kanon, der einen gesellschaftlichen Grundkonsens vertritt, sondern mehrere entsprechende Angebote. Die so oft erwähnte und aus linksliberaler Sicht mitunter zurecht gefürchtete "Filterblase" sozialer Netzwerke ist im Zweifel nicht nötig - man kann sich alternative Inhalte auch als wertig aufgemachtes Printmagazin nach Hause holen, womit diese Inhalte viel stärker zu einem akzeptierten Bestandteil des Mediengebrauchs werden könnten, als es geteilte Facebook-Meldungen je waren, und damit auch die vertretenen Weltbilder Eingang in den Mainstream finden könnten. Wir haben es also, zusammengefasst, mit einer doppelten Entwicklung zu tun: Online hat der Gatekeeper seine Bedeutung verloren; traditionelle Medien werden so deutlich kritisiert und deren Sichtweisen mit Alternativen konfrontiert wie nie zuvor. Offline gibt es neue Gatekeeper, die noch ganz traditionell funktionieren, aber ebenfalls den Sichtweisen etablierterer Medien entgegenstehen. Noch ist offen, wie sich dies entwickeln wird.

III.5: Head Canon und Krisis des Wissens

Diese Essay-Reihe spielt mit dem Begriff "Head Canon" oder, etwas sperrig, dem Kanon im Kopf, als paradoxes Gegenstück zum eigentlichen, überindividuellen Kanon-Begriff. Wie im letzten Teil der Reihe gezeigt, stammt der Begriff aus der Popkultur und beschreibt das Füllen wahrgenommener Lücken in fiktionalen Erzählungen.

Doch im nichtfiktionalen Bereich ist es ähnlich: Wenn Judith Miller Jahre später ihre alten NYT-Arbeiten zum Irak-Krieg einordnet - wenn Colin Powell seine UN-Rede 2003 rückblickend als auf fehlerhaften Geheimdienstberichten basierend rechtfertigt - wenn Kai Gniffke wiederholt die Berichterstattung der Tagesschau-Redaktion verteidigt - und wenn vor allem täglich tausende Kommentare unter Medienberichten geschrieben werden, die diese Berichte teils scharf kritisieren: Dann ist auch dies das Ausfüllen wahrgenommener Lücken. Ein Narrativ wird als unvollständig oder falsch erkannt; individuell versucht man, diese Lücken zu füllen und Zusammenhang in die Geschichte zu bringen.

Im Fall vieler Kommentare unter journalistischen Arbeiten meint dies oft, dass dem in den Medien behaupteten Wissen - den zugrundeliegenden Annahmen und Weltbildern, sowie den behaupteten Fakten - nicht vertraut wird und dass dem mit Alternativen entgegnet wird. Dabei wird manchmal mehr geahnt als gewusst, dass es noch mehr geben könnte; Ahnungen differenzieren sich durch fortschreitende Kommunikation mitunter zu "anderem" Wissen aus.

Dieses Verhältnis von Medienberichten und Kommentaren ist ein Beispiel für ein gesellschaftliches Phänomen, das der Soziologe Helmut Willke in seinem Band "Dystopia"14 als Krisis des Wissens bezeichnet: "die Unfähigkeit, mit Nichtwissen kompetent umzugehen".15 In Willkes Begriffen kann man das Aufkommen von kritischen Rezipientenkommentaren und die Verbreitung professioneller alternativer Medien als Zurückweisung einer "Wissenselite" (hier eben der bis dato vorherrschenden Massenmedien) bezeichnen. Nach Willke schöben sich heute andere "ungehörige" Quellen des Wissens in den Vordergrund16, "ungehörig" jeweils aus Sicht der vorher etablierten Wissensquellen. Willke nutzt bewusst den Begriff Krisis und nicht Krise. Mit letzterem Begriff verbindet man oft Ungewissheit und vielleicht auch Unlösbarkeit; eine Krisis hingegen ist der Höhepunkt einer Entwicklung, deren Ende bereits absehbar ist und nach der etwas Neues folgt.

Vor diesem Hintergrund gewinnt heute die eigene Entscheidung für bestimmte Medien und damit bestimmte Sichtweisen auf Wirklichkeit an Bedeutung. Diese Entscheidung, wenn sie ernstgemeint ist, nimmt einem keine "Filterblase" ab, sondern man hat sie als Rezipient immerzu erneut zu treffen. Die Aktivitäten jahrzehntelang erfolgreicher Medien sind mehr denn je nur Angebote, zu denen es nun neue Alternativen gibt, die sich in Verbreitung und Aufmachung ebenso professionell geben, aber sich durch teils grundsätzlich andere Narrative auszeichnen.

Die Aufgabe medienkompetenter Rezipienten wäre es, diese neue Vielfalt vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrung und möglicher Alternativen zur eigenen Erfahrung (d.h. einfach anderer Perspektiven) zu reflektieren, statt Medien nur ritualhaft (wie einst die Tagesschau, siehe Schmitz) und selbstbestätigend zu konsumieren, oder sie alternativ nur als "Lügenpresse" abzustempeln. Beides - ritualisierte Akzeptanz und ritualisierte Abwehr - werden der Komplexität der heutigen Gesellschaft und ihrer Medien nicht gerecht, zumindest wenn man Willke darin zustimmt, dass die Krisis des Wissens verlangt, neben dem als Wissen akzeptierten auch das jeweilige "komplementäre Nichtwissen"17 zur Kenntnis zu nehmen.

"Nichtwissen" meint nicht einfach "falsch" im Gegensatz zu "wahr", oder gar, dass alternative Medienangebote per se als falsch zurückzuweisen wären, sondern die konstruktivistische erkenntnistheoretische Position, dass immer Alternativen denkbar sind.

Ein derart dauerreflektierter Zugang ist allerdings leichter zu fordern als durchzuhalten, denn wenn das ordnungsstiftende Ritual seine Bedeutung verliert und es keinen Kanon gibt, auf den man sich stützen kann, dann bleibt zunächst anstrengende Verunsicherung. Dirk Baecker hat diese Verunsicherung poetisch formuliert: "Das Individuum der nächsten Gesellschaft spielt, wettet, lacht und ist ratlos. Es zählt wie in der Stammesgesellschaft, fühlt wie in der Antike, denkt wie in der Moderne und muss sich dennoch jetzt und heute an der Gesellschaft beteiligen. Es vergewissert sich seiner Gruppe, träumt von seinem Platz, berechnet seine Chancen und erlebt, wie bereits die nächste Verwicklung es überfordert."18 Eine solche Zerrissenheit des Individuums kann nicht nur intellektuell, sondern auch ganz leiblich spürbar sein. Dann ist sie weit weg von der bequemen abstrakt-systemtheoretischen Beobachtungshaltung, die in dieser Essay-Reihe bis jetzt eingenommen wurde, sondern ganz nah am subjektiven alltäglichen Erleben.

Was dies meint und wie dies überhaupt möglich ist - dass eine medienbezogenen Krisis des Wissens leiblich spürbar sein kann - wird im nächsten Teil dieser Essayreihe in Anlehnung an Begriffe des Phänomenologen Hermann Schmitz ausgeführt.