Kooperation anstatt Egoismus?

Seite 2: Das soziale Gehirn

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Der vielleicht wichtigste Unterschied zu älteren evolutionären Theorien ist wohl, daß das Sozialverhalten nicht mehr ausschließlich auf "Egoismus" zurückgeführt bzw. aus dem aufrechten Gang, der Sprachfähigkeit oder der Werkzeugherstellung erklärt wird, sondern daß man, auch aufgrund von Erkenntnissen über Primaten, die "Gehirnexpansion" und die Zunahme der "Intelligenz" beim Menschen aus der sozialen Rolle als Gruppenwesen abzuleiten sucht. Gruppen, die nicht nur aus Verwandten bestehen, sondern hochkomplexe Beziehungen und Rangordnungen zwischen Lebewesen darstellen, die ein hohes Maß an Autonomie besitzen, erfordern große Intelligenz. Neue Ansätze zur Entwicklung der KI oder des Künstlichen Lebens experimentieren daher auch nicht mehr mit Computersystemen, die wie ein Robinson Crusoe existieren, sondern die durch ihre Interaktion in einer Gruppe ihre kognitiven Eigenschaften entfalten und so lernfähig werden sollen.

Auf bestimmte Umweltbedingungen zu reagieren, ist schwierig genug, aber auf Dauer mit anderen Lebewesen auszukommen, die genauso klug sind und alle Finten, Lügen, Verschleierungen und Tricks beherrschen wie man selbst, ist eine weitaus schwierigere Herausforderung. Schließlich geht es darum, sich in einem Geflecht aus Bündnissen, Fehden, Intrigen und ständig wechselnden Allianzen zurechtzufinden und mit ihm hinsichtlich der Verfolgung eigener Interessen spielen zu können. Dazu muß man sich in jemanden anderes hineinversetzen und die Absichten eines anderen lesen können. Kooperation ist natürlich keine uneigennützige Verhaltensweise und sie schließt auch keineswegs Gewalt gegenüber den Mitglieder einer Gruppe aus, um sie gewissermaßen an den "Gesellschaftsvertrag" zu erinnern.

Die größte Herausforderung stellte der Umgang mit dem hinterhältigsten, gefährlichsten Tier in der Welt der Frühmenschen dar - ihrem Mitmenschen. Es waren die Gefahren - und die Entlohnungen - für das Manövrieren in einer Welt sozialer Beziehungen, welche die beachtliche Größenzunahme des menschlichen Gehirns im Laufe der Evolution verursachten.

William Allman

Natürlich ist das nur eine Hypothese, aber sie leuchtet ein. Man kann davon ausgehen, daß Homo sapiens sapiens mindestens seit 100.000 Jahren anatomisch identisch mit uns war. Erstaunlicherweise aber trat der den Menschen kennzeichnende Kreativitätsschub mit der Erfindung von Werkzeugen, Wohnstätten, Totenkulten, Herden, Kleidern, Ritualen und Kunstgegenständen erst und dann ziemlich plötzlich vor 40.000 Jahren ein. Allmann sucht diese lange Latenzphase und die plötzliche Revolution, die sich dann vor 10.000 Jahren noch einmal im Übergang zur agrarischen Lebensweise ähnlich fundamental wiederholt hat, einerseits aus den veränderten klimatischen Bedingungen und andererseits aus den damit zusammenhängenden Veränderungen und Komplexitätssteigerungen der sozialen Ordnung zu erklären. Die aufeinander folgenden Kältewellen der Eiszeit ließen zusammen mit dem Bevölkerungswachstum das Überleben der Menschen noch stärker von der Kooperation in einer Gruppe abhängig werden, die auf Arbeitsteilung, gemeinschaftlicher Nutzung von Rohstoffen und Integration in einer größeren Gemeinschaft beruhte und die Regelung der sozialen Beziehungen auch mit anderen Gruppen erforderlich machte.

Die soziale Bindung - und die Möglichkeit, diese zu festigen und auszubauen - könnte daher der kulturellen Entwicklung zugrundeliegen. Die Menschen sehen denn auch die Welt vornehmlich unter dem Aspekt von sozialen Beziehungen und "beleben" ihre Umwelt, um in ihr Tauschbeziehungen erkennen und ausführen zu können, was eben die Grundlage für die Erfindung von Werkzeugen und Wissenschaft sein könnte. Die Möglichkeit der Kooperation war zwar bereits in der Evolution der Säugetiere längst angelegt, doch die daraus entspringende Kreativität setzte ein großes Gehirn und die Fähigkeit einer engen sozialen Bindung mit Gruppenmitgliedern voraus, die durch Rituale, Sprache, Musik oder andere Künste intensiviert und komplexer wurde. Sprache ist nicht nur ein Instrument zur Informationsvermittlung, sondern sorgt durch Plappern und Quatschen auch von Nebensächlichem wie das Lausen bei den Affen für den Zusammenhalt. Kooperation ließ beim Jagen und Sammeln die körperlich unterlegenen Menschen erfolgreich werden, während die rituelle Kunst als "sozialer Kitt" diente. Der Mensch ist, auch unter seinen Nebenlinien, ganz offensichtlich das Lebewesen mit der höchste Kooperationsfähigkeit, woraus auch sein Potential beruht, die größten Zerstörungen auszuführen.

Die große Frage im Kontext der Evolutionstheorie allerdings ist, warum Kooperation sich im Dienst des genetischen Egoismus überhaupt langfristig durchsetzen konnte und wie sich zeigen läßt, daß Kooperation auch mit Nicht-Verwandten eine erfolgreiche Strategie sein kann - gerade unter der Bedingung, daß Betrügen oder Gewaltanwendung in vielen Situationen, wenn auch nur kurzfristig, durchaus erfolgreich sein und als rationale Strategie gelten können.