Kräftemessen in Algerien geht weiter

Bild: Acrelune/CC BY-SA 4.0

Eskalation oder Kompromiss? Algeriens Regime setzt zunehmend auf Repressalien gegen die Protestbewegung

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Fast acht Monate nach Ausbruch der Massenproteste gegen Algeriens herrschende Klasse geht das Tauziehen um die politische Zukunft des Landes unvermindert weiter. Die Lage spitzt sich dabei inzwischen sukzessive zu, eine Eskalation des Konfliktes kann nicht mehr ausgeschlossen werden.

Während die extrem heterogene Protestbewegung weiterhin jeden Dienstag und Freitag Demonstrationen in zahlreichen Städten im Land auf die Beine stellt und mit diesen den Druck auf das Regime aufrechterhält, ziehen Sicherheits- und Staatsapparat sowie Teile der Justiz schrittweise die Daumenschrauben an und zeigen damit, dass die immer noch an den Schalthebeln der Macht ausharrenden alten Garden des Regimes keineswegs gewillt sind, die Kontrolle über den politischen Übergangsprozess aus der Hand zu geben.

Die alte Garde und ihr Übergangsfahrplan

Nach monatelangem politischem Stillstand kommt seit Anfang September zwar endlich Bewegung in die festgefahrene Pattsituation, die Fronten zwischen Regime und Opposition bleiben aber verhärtet, denn das Regime widersetzt sich hartnäckig einem tiefgreifenden politischen Wandel und beginnt, die seit Februar de facto vorherrschenden politischen Freiheiten wieder einzuschränken und dem Land zeitgleich einen politische Übergangsfahrplan aufzuzwingen, der von Protestbewegung und Opposition vehement abgelehnt wird.

Auf Druck von Algeriens de facto-Machthaber, Generalstabschef Ahmed Gaïd Salah, kündigte der seit April amtierende Interimspräsident Abdelkader Bensalah für den 12. Dezember Präsidentschaftswahlen an. Von der herrschenden Klasse kooptierte parteipolitische Kräfte - oder jene, die hoffen, aus der Wahl politisches Kapital schlagen zu können - stehen bereits Spalier, begrüßten den Schritt und kündigen einer nach dem anderen ihre Teilnahme an dem umstrittenen Urnengang an, während Protestbewegung und Opposition Boykotterklärungen lancieren und den Widerstand gegen eine von oben aufoktroyierte Lösung der Krise intensivieren - mit ungewissem Ausgang.

Denn zwar sind die Proteste weiter konsequent friedlich und das Regime setzt bisher nur auf unblutige Techniken der Repression, doch Algeriens letzter Massenaufstand von 1988 zeigte, zu welchen Mitteln Algeriens Sicherheitsapparat zu greifen bereit ist, wenn Bevölkerung und Opposition darauf pochen, die verkrusteten Machtstrukturen im Land konsequent aufzubrechen.

Protestbewegung fordert tiefgreifenden Wandel

Auslöser der andauernden Krise war die Präsidentschaftskandidatur des seit 1999 amtierenden Expräsidenten Algeriens Abdelaziz Bouteflika, der bei der eigentlich für April 2019 geplanten Wahl ein fünftes Mandat anstrebte. Nur Tage nach der offiziellen Verkündung seiner Kandidatur Anfang Februar brachen in der östlich von Algier gelegenen berberisch geprägten Region Kabylei und in mehreren Städten im Osten des Landes spontane Demonstrationen gegen den greisen Staatschef und das hinter ihm stehende "System" aus, die sich innerhalb weniger Wochen zu einer beispiellosen Massenbewegung mauserten und das gesamte Land erfassten.

Die Proteste konnten zwischen Februar und Mai über Wochen hinweg mehrere Millionen Menschen mobilisieren und hielten auch an, nachdem die Regierung des im Land äußerst verhassten Ex-Premierministers Ahmed Ouyahia entlassen wurde. Auch nachdem Bouteflika kurz darauf seinen vorzeitigen Rücktritt und ein Verschieben der Präsidentschaftswahl verkünden ließ, gingen die wortgewaltigen Proteste weiter.

Grund für den anhaltenden Unmut der Bevölkerung war der wenig vertrauensstiftende Wechsel an der Staats- und Regierungsspitze, denn mit Bensalah und Noureddine Bedoui übernahmen zwei langjährige Vertreter des Regimes aus der zweiten Reihe die Regierungsgeschäfte. Bensalah, seit 2002 Präsident des Oberhauses des algerischen Parlaments und Gründungsmitglied von Ouyahias diskreditierter Partei RND (Rassemblement National Démocratique), zählt ebenso zur alten Garde des Regimes wie Bedoui, der seit 2015 als Innenminister amtierte und nun seit Mai die Regierung führt, seither allerdings in der Versenkung verschwand und sich nur wenige Male zu Wort meldete.

Armeechef Gaïd Salah baut seine Macht aus

Regiert wird das Land seit Bouteflikas Abgang jedoch de facto von Armeechef Gaïd Salah, der sich trotz angeblicher Unruhe in der Militärführung auf seinem Posten halten und seine Macht massiv ausbauen konnte und die treibende Kraft hinter einer beispiellosen Säuberungswelle im Staats- und Regimeapparat zu sein scheint, deren Ziel es vor allem ist, das Regime neu aufzustellen und öffentlich diskreditierte Kader aus dem Machtapparat zu entfernen.

Rund 30 hochrangige Politiker, Geschäftsleute und Militärs wurden seit April wegen Korruptions- oder Komplottvorwürfen verhaftet und müssen sich teils vor Gericht verantworten.

Auch auf lokaler Ebene rollten die Köpfe. Neben zahlreichen Verhaftungen wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder oder Korruption initiierten Gaïd Salah und Bensalah zudem mehrere Entlassungswellen im Sicherheitsapparat und an der Spitze der Provinzregierungen.

Reorganisation der herrschenden Klasse

Die Führungsköpfe von Bouteflikas Fraktion im Machtapparat sind dadurch inzwischen ebenso ausgeschaltet wie der mit Bouteflika rivalisierende Regimeflügel um den früher als allmächtig geltenden Exgeheimdienstchef Mohamed "Tewfik" Mediène.

Tewfik, sein Nachfolger an der Geheimdienstspitze Athmane Tartag, die als deren Verbündete geltende langjährige Chefin der trotzkistischen Arbeiterpartei (Parti des Travailleurs), Louisa Hanoune, sowie Bouteflikas jüngerer Bruder Saïd wurden erst im September von einem Militärgericht in Blida zu 20 bzw. 15 Jahren Haft verurteilt und dürften in näherer Zukunft keine politische Rolle im Land mehr spielen.

Die Heftigkeit des Vorgehens gegen Tewfiks Fraktion war durchaus überraschend, galt diese doch trotz ihrer formalen Entmachtung 2015 weiterhin als einflussreich. Tewfiks Seilschaften gelten zudem als mögliche Urheber der wenige Tage nach den ersten spontanen Protesten lancierten anonymen Protestaufrufe für den 22. Februar, die als Katalysator für die Protestwelle fungierten und diese erst richtig anfeuerten.

Vermutungen, nach denen Tewfiks Fraktion versucht haben könnten, den Unmut in der Bevölkerung zu instrumentalisieren, um Bouteflika von der Macht zu verdrängen, halten sich bis heute beharrlich. Sollten Tewfiks Verbündete tatsächlich hinter den Aufrufen stecken, hätten sie sich gewaltig verkalkuliert, den seit 2013 massiv gewachsenen Einfluss Gaïd Salahs unterschätzt und nicht ihren eigenen Einfluss ausgeweitet, sondern seit Jahren marginalisierten Fraktionen in Algeriens Machtelite zum Aufstieg verholfen.

Protestbewegung und Opposition begrüßten das Vorgehen gegen die beiden vormals mächtigsten Regimefraktionen Bouteflikas und Tewfiks, ließen sich von Gaïd Salahs Rhetorik alledings nicht einwickeln und fordern mehr: den Abgang sämtlicher Vertreter der alten Ordnung - inklusive Gaïd Salahs - und einen tiefgreifenden politischen Wandel.

Der Armeechef hatte offenbar darauf gesetzt, dass die Proteste früher oder später nachlassen würden - allerdings vergeblich. Zwischen dem Fastenmonat Ramadan im Mai und dem Schul- und Universitätsbeginn Anfang September hatten die allwöchentlichen Demonstrationen in der Tat massiv an Zugkraft verloren.

Doch seit Anfang September bekommen die jeden Dienstag und Freitag stattfindenden Demonstrationen wieder massiven Zulauf. Algeriens Protestbewegung zwang das Regime damit, zur Verteidigung des machtpolitischen Status quo und der Privilegien für den weiterhin hinter den Kulissen regierenden Sicherheitsapparat zu anderen Mitteln zu greifen.

Konsequente Friedfertigkeit der Protestbewegung

Angesichts der konsequenten Friedfertigkeit der Protestbewegung waren Sicherheitsapparat und Armeeführung schon nach Bouteflikas Rücktritt im April gezwungen, dem Treiben auf den Straßen weitgehend tatenlos zuzuschauen. Unzählige Frauen und ganze Familien zogen und ziehen auch heute noch durch die Straßen.

Algeriens Frauen gelten dabei als eine der wichtigsten und aktivsten Stützen der Bewegung, die Proteste mit roher Gewalt aufzulösen, war aufgrund ihrer massiven Präsenz keine Option für Gaïd Salah, der inzwischen darauf zu setzten scheint, durch sukzessives Anziehen der Daumenschrauben die Büchse der Pandora wieder zu schließen. Zeitgleich mit dem erneuten Anschwellen der Proteste wurde die Präsenz der Sicherheitskräfte bei den Protesten spürbar erhöht.

Regime setzt zunehmend auf Repressalien

Sowohl Hundertschaften als auch reguläre Polizeieinheiten versuchen mit ihrem inzwischen deutlich ruppigeren Vorgehen gegen Demonstranten, vor allem in der Hauptstadt Algier, den Protesten den Wind aus den Segeln zu nehmen und die Bewegung einzuschüchtern. Auch die vom Militär kontrollierte Gendarmerie intensivierte ihre Maßnahmen, um den Protesten Steine in den Weg zu legen.

Derweil verlaufen Verhaftungen von Demonstranten inzwischen weitaus weniger glimpflich ab. Wurden Protestler zuvor meist zu Beginn oder gegen Ende der Protestmärsche für einige Stunden in Gewahrsam genommen und anschließend ohne strafrechtliche Folgen wieder freigelassen, hagelt es inzwischen Anklagen gegen Demonstranten, Aktivisten und Oppositionelle.

Mehr als 120 im Zuge von Demonstrationen verhaftete Menschen wurden landesweit in Untersuchungshaft gesteckt, nur ein Bruchteil davon wurde wieder auf freien Fuß gesetzt. Mehr und mehr internierte Aktivisten und Demonstranten schlossen sich zudem zuletzt einem Hungerstreik an, um auf ihre Haftbedingungen aufmerksam zu machen und gegen das staatliche Vorgehen gegen sie zu protestieren.

Oppositionelle und Journalisten im Visier

Die Behörden gehen zudem verstärkt gezielt gegen Wortführer aus den Reihen der regimekritischen Opposition vor. Die Verhaftung von Karim Tabou, Sprecher der oppositionellen linken Partei UDS (Union Démocratique et Sociale), dürfte dabei nur der Anfang gewesen sein.

Tabou - einer der bekanntesten Wortführer aus den Reihen der Protestbewegung und einer der wenigen Oppositionspolitiker, deren Parteien als nicht diskreditiert oder vom Regime kooptiert gelten - war Mitte September von Beamten der Gendarmerie gezielt zu Hause verhaftet und wegen des "Untergrabens der Moral der Armee" angeklagt worden,.

Das ist ein Vorwurf, der ein Verfahren vor einem Militärgericht zur Folge haben könnte. Zwar wurde er nach einigen Tagen wieder frei gelassen, doch weniger als 24 Stunden später erneut inhaftiert.

Auch Journalisten werden zunehmend zum Ziel des Sicherheitsapparates. Immer häufiger werden diese während Protestmärschen darin gehindert, ihre Arbeit zu machen und kurzweilig inhaftiert. Beschränkte sich dieses Vorgehen bisher meist auf die Hauptstadt Algier, scheinen die Behörden inzwischen landesweit gegen die Presse vorzugehen.

Kürzlich wurde ein den unabhängigen Gewerkschaften nahe stehender Journalist in Oran im Westen Algeriens verhaftet und dem Staatsanwalt vorgeführt, allerdings kurz darauf unter Auflagen wieder freigelassen. Ein Kollege aus Constantine im Osten des Landes hatte weniger Glück und sitzt weiterhin hinter Gitter.