Kräftemessen in Algerien geht weiter

Seite 3: Wirtschaftskrise und bevorstehende Neuverteilung wirtschaftspolitischer Privilegien

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Während die politischen Ränkespiele ungebremst weitergehen und sich Protestbewegung und Opposition hüten müssen, vom Sicherheitsapparat nicht zermalmt zu werden, droht sich die soziale Schieflage massiv zu verstärken und den bisher oberflächlich politischen Konflikt zu überlagern.

Eine Eskalation der Wirtschaftskrise ist nur noch eine Frage der Zeit. Grund für die angespannte Finanzlage des Staates ist der Einbruch des Weltmarktpreises für Erdöl Ende 2014, denn das Land ist hochgradig abhängig vom Öl- und Erdgasexport.

Algeriens Staatsbudget hat sich seither halbiert, die Währungsreserven sind von rund 194 Milliarden US-Dollar Ende 2014 auf noch 72,6 Milliarden im April 2019 eingebrochen. Die Inflation steigt und der Mangel an Devisen hat den Schwarzmarktpreis für harte Währung explodieren lassen. Für einen Euro zahlt man auf der Straße inzwischen mehr als 200 algerische Dinar - offiziell liegt der Kurs bei rund 135 Dinar.

Die Regierung Ouyahia hatte schon 2017 mit unkonventionellen Mitteln gegengesteuert und der Zentralbank einen Freibrief zum Gelddrucken erteilt, um den Verfall der Währungsreserven zu bremsen und die Kreditaufnahme aus dem Ausland so lange wie möglich hinauszuzögern.

Inmitten der aktuellen Krise wurde diese Maßnahme überraschend zurückgenommen, doch es wird erwartet, dass Algeriens Staatsführung früher oder später abermals auf dieses Mittel zurückgreifen wird, um sich Zeit zu erkaufen und im Land äußerst unbeliebte Kreditpakete ausländischer Gläubigern so lange wie möglich zu vermeiden.

Während das Regime für seinen Haushalt für das kommende Jahr Steuererhöhungen durchsetzen könnte, versucht es offenbar durch andere Maßnahmen den Devisenzufluss zu stimulieren, denn die Regierung kündigte für bestimmte Wirtschaftssektoren eine Aufweichung der 51/49-Regel an (ausgenommen bleibt allerdings der Öl- und Gassektor), die es ausländischen Investoren verbietet, Mehrheitsbeteiligungen an in Algerien operierenden Firmen oder Joint Ventures zu halten.

Ob angesichts der aktuellen politischen Lage ausländische Investoren angelockt werden können, darf jedoch getrost bezweifelt werden. Entsprechend könnte die Maßnahme auch ein erster Vorgeschmack auf eine Neuaufteilung staatlicher Pfründe sein. Schon unter Bouteflika wurde in regelmäßigen Abständen verkündet, die Regelung aufweichen zu wollen. Seinem Regime wurde immer wieder vorgeworfen, dadurch das Tafelsilber des algerischen Staates - unter anderem die staatliche Erdöl- und Erdgasgesellschaft Sonatrach - teilprivatisieren zu wollen.

Nicht unterschätzen darf man derweil eine andere Variable; Das Regime könnte nämlich früher oder später darauf setzen, die Wirtschafts- und Budgetkrise absichtlich zu verstärken, als Waffe gegen die Protestbewegung einzusetzen und damit ökonomischen Druck auf die Bevölkerung auszuüben, um damit Rufe nach stabilen politischen Verhältnissen heraufzubeschwören und zeitgleich die Forderungen von Protestbewegung und Opposition zu diskreditieren.

Der ungewöhnlich heftige Einbruch der Devisenreserven zwischen Dezember 2018 und April 2019 könnte in diesem Zusammenhang bereits ein Vorgeschmack darauf sein, was passiert, wenn das Regime absichtlich Gelder verprasst.

Bisher ist völlig unklar, warum die Reserven derart stark eingebrochen sind. Die massiven Preiseinbrüche von Hühnchenfleisch und gewissen Obstsorten könnten jedoch durch eine heftige Erhöhung versteckter Subventionen zu erklären sein, die mittels vom Regime kontrollierten Mittelsmännern realisiert wurden.

Eskalationsspirale oder schmerzhafter Kompromiss?

Vor dem Hintergrund der seit 2015 eskalierenden wirtschaftlichen Verwerfungen wird deutlich, dass die regimeinternen Flügelkämpfe im Prinzip Verteilungskämpfe um die eingebrochenen Pfründe des algerischen Staates sind.

Auch der seit 2017 massiv gewachsene Unmut der Bevölkerung äußerte sich angesichts der anziehenden Inflation und dem Wertverfalls der algerischen Währung zunächst in einem massiven Anstieg sozioökonomisch motivierter Proteste bevor Bouteflikas umstrittene Präsidentschaftskandidatur das Fass zum Überlaufen brachte und erstmals seit Jahren eine Protestwelle mit dezidiert politischen Forderungen auslöste.

Der seit Monaten andauernde Konflikt zwischen dem hartnäckig an den Schalthebeln der Macht ausharrenden Regime und der Protestbewegung, die entschieden auf tiefgreifende politische Reformen und eine inklusivere politische Ordnung drängt, tritt im Vorfeld der Wahlen abermals in eine entscheidende Phase.

Der einzige Weg, ein Blutvergießen oder im besten Falle eine Rückkehr zu einem autokratischen Regierungssystem zu verhindern und zeitgleich echte Reformen und einen Wandel des "Systems" anzustoßen, wäre ein Kompromiss, bei dem Teile der herrschenden Klasse sowie Opposition und Protestbewegung ernsthafte Verhandlungen beginnen.

Jil Jadids Kompromissvorschlag ist zwar keinesfalls revolutionär und birgt zahlreiche Gefahren, wäre aber eben ein durchführbarer und realistischer Weg, das Land vor dem Abgrund zu bewahren. Eine vollständige und unmittelbare Entmachtung des Sicherheitsapparates ist schlichtweg unrealistisch und dürfte, sollte ein solches Szenario wirklich drohen, heftige Gegenreaktionen des Militär- und Geheimdienstapparates lostreten, in deren Rahmen ein Blutvergießen nicht ausgeschlossen werden kann.

Ein Blick auf die Ereignisse der 1990er Jahre zeigt deutlich, welch gefährliche Dynamiken damit in Gang gesetzt werden könnten. Vor dem Hintergrund der fragilen Sicherheitslage in der Region, die neben EU-Staaten wie Frankreich oder Deutschland auch die USA oder Russland auf den Plan rufen könnten, wären Algeriens Bevölkerung sowie die Opposition die ersten, die das Nachsehen hätten.

Was den anhaltenden Konflikt zwischen herrschender Klasse und aufbegehrender Bevölkerung und Opposition jedoch so unberechenbar macht, ist die Tatsache, dass beide Seiten aus der eigenen Vergangenheit - also dem Massenaufstand von 1988 und dem blutigen Bürgerkrieg der 1990er Jahre - , aber auch den Entwicklungen in der Region wie in Ägypten, Tunesien oder Syrien seit 2011 gelernt haben und entsprechend neue Taktiken, Techniken und Strategien zum Erreichen ihrer Ziele einsetzen.