Kräftemessen in Algerien geht weiter

Seite 2: Präsidentschaftswahlen: Wer gewinnt die Gunst des Militärs?

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Mit einer weiteren schrittweisen Eskalation der Lage dürfte in den kommenden Wochen zu rechnen sein, denn der Zeitpunkt des spürbaren Strategiewechsels von Staatsführung und Sicherheitsapparat ist kein Zufall und findet im Kontext der für Dezember geplanten Präsidentschaftswahlen statt - ein Urnengang, der in dieser Form von Protestbewegung und Opposition abgelehnt wird.

Gaïd Salah will durch die Wahl eines neuen Staatsoberhauptes die Legitimität der politischen Führung erneuern. Er selber ist bereits seit Monaten eine primäre Zielscheibe der Protestbewegung, eine Rolle, die dem Militär keineswegs gefällt, setzte Algeriens Sicherheits- und Armeeapparat doch seit Jahren darauf, nur im Hintergrund zu agieren und keine offensichtlich politische Rolle zu spielen.

Monatelang hatte Gaïd Salah zwar rasche Präsidentschaftswahlen gefordert, jedoch nie einen konkreten Termin ins Spiel gebracht und sich auch rhetorisch mit Breitseiten gegen Opposition oder Protestbewegung zurückgehalten. Inzwischen ist die regimeinterne Reorganisation jedoch offenbar vorangeschritten, denn seit Anfang September bewegt sich etwas in dem zuvor monatelang auf der Stelle tretenden Regime.

In einer bisher beispiellosen Wortfülle richtete sich der Armeechef in der ersten Septemberhälfte gleich sechs Mal an die Öffentlichkeit und forderte für den 15. September den Beginn der Wahlvorbereitungen. Interimspräsident Bensalah folgte den "Vorschlägen" auf den Fuß und kündige just am 15. September den Beginn der Wahlvorbereitungsphase an.

Der Urnengang ist nun für den 12. Dezember geplant. Seither radikalisierte sich Gaïd Salahs Rhetorik merklich. Meist indirekte, aber auch direkte verbale Frontalattacken gegen jedwede Opposition zu dem geplanten Wahlgang gehören seither zu seinem Standardrepertoire.

Seit Monaten in der Versenkung verschwundene politische Kader des Regimes, aber auch Teile der dem Regime nahestehenden Opposition bereiten sich unterdessen langsam aber sicher auf die Wahl vor und werben um die Gunst des Militärs. Nach offiziellen Angaben holten ganze 120 mögliche Kandidaten bisher die Unterlagen für eine Präsidentschaftsbewerbung bei der neu eingerichteten Wahlaufsichtsbehörde ab.

Wer am Ende das Rennen machen könnte - sollte der Urnengang wie geplant stattfinden und angesichts der Boykotterklärungen und anhaltenden Proteste nicht abermals verschoben werden - , ist noch unklar. Zu den bisher in Erscheinung getretenen hochkarätigeren Kandidaten zählen neben dem Chef der gemäßigt islamistischen Partei El Bina, Abdelkader Bengrina, vor allem die beiden früheren Premierminister Abdelmajid Tebboune und Ali Benflis.

Ali Benflis - Favorit auf den Wahlsieg im Dezember?

Vor allem letztem werden Chancen eingeräumt, bei einem Urnengang im Dezember oder zu einem späteren Zeitpunkt vom Militärestablishment unterstützt und dadurch in den Präsidentenpalast von El Mouradia in Algier gespült zu werden.

Benflis war Anfang des Jahrtausends kurzweilig Generalsekretär der Regimepartei FLN (Front de Libération Nationale) und amtierte zwischen 2000 und 2003 unter Bouteflika als Regierungschef, bevor er sich mit dessen Fraktion im Machtapparat überwarf und bei den Präsidentschaftswahlen 2004 und 2014 gegen den im April aus dem Amt gejagten Exstaatschef antrat - und beide Male in den massiv manipulierten Urnengängen haushoch unterlag.

Schon bei seiner erfolglosen Kandidatur 2004 wurde Benflis jedoch von mächtigen Fraktionen im Sicherheitsapparat unterstützt, stellte sich doch kein geringerer als der damalige Generalstabschef Mohamed Lamari hinter ihn. Lamari, der sich erfolglos gegen ein zweites Mandat Bouteflikas gestemmt hatte, zog bei den regimeinternen Flügelkämpfen jedoch den Kürzeren und wurde noch 2004 von Bouteflika entlassen und durch den bis heute amtierenden Gaïd Salah ersetzt.

Schon der damalige Wechsel an der Armeespitze war Ausdruck von Machtkämpfen um politischen Einfluss, den Zugang zu Privilegien und die regimeinterne Führungsrolle. Das regelmäßige Wiederaufleben solcher regimeinterner Stetigkeiten überstand Bouteflika seither jedoch immer problemlos - auch wenn er vor allem durch Tewfiks Fraktion mehrfach in die Schranken gewiesen wurde.

Die Fraktion Lamaris und Benflis‘ galt dabei jedoch als weitgehend kaltgestellt - bisher. Denn seit einigen Monaten deutet sich Benflis‘ Comeback an, das dieses Mal mit seiner "Wahl" zum Präsidenten gekrönt werden könnte. Kurz nach der abermaligen Wahlniederlage 2014 gründete er mit Talaïe El Hourriet eine eigene Partei, die seit Beginn der anhaltenden Protestwelle eine sehr laute Öffentlichkeitsarbeit betreibt. Zudem wurden im Sommer zwei ehemals enge Verbündete von Benflis auf einflussreiche bzw. symbolisch nicht unwichtige Staatsposten gehoben.

Gespaltene Opposition

Im Sommer 2019 zählte Benflis‘ Partei derweil zu den treibenden Kräften hinter der Plattform von Ain Benian (benannt nach dem gleichnamigen Vorort von Algier, dem Ort des ersten Treffens) - auch als Koalition der Kräfte des Wandels bekannt. Die zu dieser Allianz zählenden Parteien - unter anderem Bengrinas El Bina und andere gemäßigt islamistische Parteien wie die MSP (Mouvement de la Société et de la Paix) - forderten schon früh rasche Präsidentschaftswahlen als ersten Schritt aus der Krise, versuchten aber trotz der Überschneidungen mit Gaïd Salahs Forderungen eine gewisse Distanz zu diesem zu wahren und forderten Garantien für eine transparente und faire Wahl. Dennoch machten Benflis und die Ain Benian-Fraktion klar, dass man sich mit der Armee durchaus einigen könnte und wolle.

Während sich unter dem Dach der Ain Benian-Koalition vor allem Parteien und politische Kräfte versammelten, die in der Vergangenheit partiell mit dem Regime Bouteflikas kooperiert hatten oder als von diesem kooptiert galten, lancierten sieben regimekritische Oppositionsparteien aus dem linksliberalen Lager und die algerische Menschenrechtsliga LADDH (Ligue Algérienne pour la Défense de droits del‘Homme) ebenfalls im Sommer die Demokratische Alternative, eine politische Plattform, die im Gegensatz zur Koalition von Ain Benian zügige Präsidentschaftswahlen ablehnt und stattdessen als ersten Schritt zur Lösung der Krise mit einem verfassungsgebenden Prozess beginnen will.

Ihrer Lesart nach drohe bei einer Wahl, die vom alten Regime organisiert werde, abermals Wahlfälschung. Das System müsse vor der Wahl einer neuen politischen Führung von Grund auf reformiert werden, andernfalls würde das Regime einen tiefgreifenden politischen Wandel zu verhindern wissen.

Nachdem beide Oppositionslager monatelang ergebnislos auf ihren Positionen beharrten, lancierte die liberale und in der intellektuellen Mittelschicht verankerte Kleinstpartei Jil Jadid (Neue Generation) im Juli einen Kompromissvorschlag, um damit dem zunehmend problematischen Patt ein Ende zu bereiten.

Dieser zwar wenig revolutionäre, dafür aber realistische und trotz der Übermacht des Militärs als durchführbar geltende Vorschlag sah vor, beide Positionen zu vereinen und nach der Gründung einer unabhängigen Wahlkommission und der Erlassung eines neuen Wahlgesetzes zuerst Präsidentschaftswahlen durchzuführen, diese jedoch an einen unmittelbar darauf zu initiierenden verfassungsgebenden Prozess zu koppeln.

Nach Einleitung der Wahlvorbereitungsphase im September verschwand der Vorstoß jedoch in der Schublade, da sich das Ain Benian-Lager daraufhin aufspaltete und sowohl Benflis als auch Bengrina deutlich machten, dass sie ganz im Sinne Gaïd Salahs bei den Wahlen teilnehmen wollen und offenbar plötzlich das Interesse an zusätzlichen Garantien für die Abhaltung eines transparenten Urnengangs verloren. Die MSP hingegen lief kurz darauf ins Oppositionslager über, nachdem die Behörden ihr zwei Mal die Genehmigung für das Durchführen von Konferenzen verweigert hatten.