Krank zu Hause

Ein Blick aus dem Ausland auf das Geistesleben der Bundesrepublik

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(Schweiz) - In Arbon am Bodenseeufer stehend, selbstvergessen ein Kägi-Fret knabbernd. Gerade bin ich von muskelbepackten Privatpolizisten aus einer Filiale der UBS herausgeworfen worden, und das nur, weil ich wissen wollte, "wieviel Zinsen es auf ein illegales Spendenkonto gibt". Jetzt bleibt mir nur ein einziger Trost: In diesem Landstrich jenseits des "Schwäbischen Meeres" hockt - durch eine beruhigend gut verteidigte EU-Außengrenze von mir getrennt - nicht nur Martin Walser, sondern gleich ein ganzes Land, mit dem kein Staat mehr zu machen ist.

Die deutschen Nachrichtensendungen gucke ich nicht mehr, das ZDF kann ich nicht mehr empfangen und habe es seither noch nie vermisst. Die einzige Sendung im deutschen Fernsehen mit einem vage politisch-aufklärerischen Anspruch bleibt die Harald-Schmidt-Show, und das reicht auch. Man kann stattdessen zum neuesten Top-Produkt der deutschen Publizistik greifen und liest in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung ein pfiffiges Stück über Berlusconis Italien. Der Artikel offenbart sogleich den mentalen kleinsten gemeinsamen Nenner der deutschen Konservativen: Den vollendeten moralischen Bankrott.

Die Linken sollten sich nicht so aufregen, eigentlich sei in Italien alles in Ordnung, weil der Staat ja vorher schon kaputt war, da könne auch ein Berlusconi nicht mehr viel dran ändern. Und der Herr Moretti, der sich so publikumswirksam über Berlusconi aufgeregt habe? "... keine zwei Wochen, bevor sein neuester Film auf Berlusconis Privatkanal exklusiv ausgestrahlt wird" (Dirk Schümer, FASZ vom 10. März 02) Aber wo, so fragt man sich, sollten die Filme des Herrn Moretti denn sonst in Italien ausgestrahlt werden? Es gibt ja nur noch Berlusconi-Sender dort.

Dennoch eine gute Gelegenheit, diesen alarmistischen Armani-Linken ans schurwollebehoste Bein zu treten, die sollte man nicht auslassen. In Norditalien ist die Wirtschaft schließlich in Ordnung. Eine echte Wachstumsregion, im Gegensatz zu Rotgründeutschland oder zu Frankreich, wo schon der laue Begriff "Cohabitation" an Feinripp mit Eingriff und wirtschaftliche Erektionsprobleme gemahnen lässt.

Solange die Wirtschaft nur ordentlich brummt, ist alles andere egal, das beginnen endlich auch die Wähler in Deutschland zu begreifen. Die generelle Taktik: Die Linke bekommt den von ihr in den letzten 30 Jahren kultivierten Alarmismus süffisant im Rahmen der täglichen Five-o'clock-Verleumdung um die Ohren gehauen. Ist doch alles nicht so schlimm, liebe Kinder, die Welt steht noch, trotz Club of Rome und Ozonloch, wir fahren Maybach und liebevoll handgeschröderte "Volkswagen" für Millionäre. Wenn was nicht stimmt, dann schicken wir Soldaten.

Entsprechend die Reaktion der FAZ auf das Stasi-Unterlagen-Urteil, den Sieg Helmut Kohls über die eigene Geschichte und die der Republik gleich mit. Es sei vollkommen in Ordnung gewesen, meint dazu der Kommentar am 9. März auf Seite 1, die Genossen Stolpe und Gysi und alle anderen DDR-Gestalten mit Hilfe der Akten bloßzustellen. Helmut Kohl dagegen habe niemals mit der Stasi zusammenarbeiten können, so ein Verdacht sei "von vornherein ausgeschlossen". Anders gesagt: Helmut Kohl war der Staat. Er war die Bundesrepublik Deutschland. Deshalb ist es logischerweise ausgeschlossen, dass der Staat in seiner Verkörperung Helmut Kohl gegen sich selbst vorgeht, sich selbst verrät. Das Verlangen nach Transparenz sei einzig und allein von Heimtücke getrieben, man wolle Kohl in der Spendenaffäre "bloßstellen".

Als Historiker weiß Kohl natürlich genau über die Bedeutung von Quellen Bescheid. Also bringt er sie konsequent zum Versiegen. Und das ist gut für uns und unser Land, denn, wie man weiß, der Ruf nach mehr "Glasnost" hat schon Imperien von ganz anderen Dimensionen implodieren lassen. Auf den wirklich triftigen Einwand, nämlich den, dass es keineswegs sicher ist, dass die Stasi-Akten die Realität wiederspiegelten - es ist ja immerhin möglich, dass Geheimdienstler zuweilen schwindeln - kam der Kommentator nicht.

Wer krank ist, sollte zu Hause bleiben.

Was die Presse dagegen eint, ist die Sorge um den Zustand der Bundeswehr. Der Spiegel meldet, nunmehr gehorsamst: Die Armee ist überfordert. Die Truppe könne den Belastungen nicht mehr standhalten, man schütze den Frieden hart am Limit, umgeben von mörderischen Mullahs in ihren Taliban-Pickups mit abgelaufenen ASU-Plaketten, an die man sich nur noch im Spürpanzer "Fuchs" heranwagen könne. Die Posse rund um den "Militairbus" wird allgemein mit Hingabe verfolgt, wichtig sind dabei aber nicht die fragwürdigen Verträge mit ihren Knebelklauseln und auf welche Weise diese zustandegekommen sind, sondern nur, wer wem parteipolitisch im Wahljahr eins auswischen wird. Dabei übersehen alle die wirkungsvollste Medizin zur finanziellen Gesundung der Bundeswehr: Wer krank ist, sollte schlicht und einfach zu Hause bleiben.

Unterdessen sind wieder mal alle deutschen Stammtischbrüder und Internet-Trolle schwuppdiwupp zu vollendeten Nahostexperten mutiert, dozieren kenntnisreich über die Details der jüdisch-amerikanischen Weltverschwörung und fordern den atomaren Erstschlag gegen wen auch immer, nur Hauptsache weit genug weg von der eigenen Pilsschwemme, während nur einige hundert Kilometer weiter echte Menschen im bösartig dahinkriechenden Krieg leben und sterben müssen. Sie merken nicht, dass Al Quaida mittlerweile unter uns ist und im Rahmen einer neuen Zermürbungstaktik von unseren alltäglichen Malaisen profitiert, denn, so Mullah Abdullah, das ganze Elend ist mehr als die Summe seiner widerwärtigen Einzelteile.

Ja richtig, liebe Kinder: Osama ist es, der eure zweiten Socken klaut und sie dann zu schicken Mützchen für jene Politessen umarbeitet, die euren falsch geparkten Taliban-Pickups Strafzettel verpassen. Und nicht nur das! Osama ist es auch, der euch die vollverchromten und falsch zu parkenden Taliban-Pickups verkauft, damit ihr mit deren grotesk überhöhten Spritverbrauch teuflische arabische Regimes unterstützt! Was? Zweifel an dieser Theorie? Ich kann euch beruhigen, ich habe das gerade erst sorgfältig im Internet recherchiert.

Der berüchtigte Kölsche Klüngel hingegen offenbart die mangelnde Professionalität der deutschen Sozialdemokratie. Nicht nur, dass die Ertappten sich als solche zu erkennen geben, sie räumen auch gleich sämtliche Mandate und gehen in Sack und Asche. Anderswo hätten sie, entsprechendes Sitzfleisch vorausgesetzt, in den Bundestag einziehen oder Ministerpräsident werden können. Aber diese Leute identifizieren sich einfach zu wenig mit dem Staat.

Wenn sie das endlich fertigbrächten, dann würde sich bestimmt ein führendes deutsches Meinungsblatt dazu bereit finden, ihnen einen rotationsgedruckten Freibrief auszustellen. Sie hätten wissen müssen: Wer es schafft, bis zum nächsten Vulkanausbruch im Amt zu bleiben, hat gewonnen, denn Vulkane kommen im Fernsehen einfach besser als Innenansichten deutscher Amtsstuben. Also immer schön Staat machen und die goldene Vulkan-Regel beachten. Live long and prosper!

Wieder daheim, da fällt mir ein alter Band über das Leben von und mit William S. Burroughs in die Hände. Eines der Fotos darin zeigt diesen öffentlichsten Junkie des Planeten zusammen mit Andy Warhol ... Es ist unglaublich ... Der Kontrast des Schwarzweißfotos stimmt, aber Andy Warhol ist nur ein durchscheinendes, geisterhaftes, weißlich-transluzentes Ding? Ja! Er, und nur er, ist die Inspiration für die gesamte neue Apple-Designlinie! Andy, der i-Artist! Er ist multimedial, kann MP3-Files summen und sich über Firewire mit neuen Ideen anderer Leute vollpumpen. Und er ist ganz und gar aus Plastik, mit geschmeidiger Oberfläche. Wenn er nicht schon tot wäre, würde ich ihn gern zum Kanzler dieses fernen Landes wählen, an dessen seichten Stränden Martin Walser planscht.