Kreuzberg-Kleinbonum

Ströbele holt erstes grünes Direktmandat der Geschichte

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Das Wahlplakat des Kandidaten Ströbele - ein Wimmelbild des Comiczeichners Gerhard Seyfried - hatte Aufsehen erregt, nicht nur in den Touristenshops Unter den Linden, wo es als "typisches" Berlinposter reißenden Absatz fand, sondern auch in der Bundeszentrale der Partei: "Ströbele wählen heißt Fischer quälen" war da klein, aber unübersehbar als Spruch einer bunten Seyfried-Demo zu lesen - und die Parteioberen waren "not amused". Spätestens seit Sonntagabend werden sie dem Querulanten in ihren Reihen aber nicht mehr böse sein - als erster Grüner der Geschichte holte Christian Ströbele in Kreuzberg-Friedrichshain ein Direktmandat.

Die Partei hatte dem 63-jährigen Juristen und altgedienten Kämpen der Grünen einen sicheren Listenplatz versagt - zu hartnäckig hatte er in den vergangenen vier Jahren an einstigen grünen Prinzipen festgehalten und zum Beispiel in der Frage des Kosovo-Kriegs die Zustimmung verweigert. Da half auch nichts, dass er sich als Obmann im Untersuchungsausschuss der Kohl-Spenden einen Namen als aufrechter, unbestechlicher Politiker gemacht hatte - die Partei schickte ihn mit der Verweigerung eines sicheren Listenplatzes Anfang des Jahres in ein aussichtslos scheinendes Rennen.

Bei der letzten Bundestagswahl war Ströbele im ehemaligen West-Berliner Bezirk Kreuzberg deutlich hinter dem SPD-Kandidaten gelandet, dieses Mal wurden ihm wegen der Zusammenlegung des Wahlkreises mit Friedrichshain - einer PDS-Hochburg - noch weniger Chancen eingeräumt. Doch mit 36,5 % hängte er den SPD-Mitbewerber, den stellvertretenden Landesvorsitzenden Andreas Mattae (31, 5% ), mit überraschend großem Vorsprung ab.

Dass er sich, bei minimalem Budget, das populärste und poppigste Wahlplakat einfallen ließ - allein daran kann es nicht gelegen haben. Auch das dreirädrige Solarmobil und die politisch korrekte Hanfjeans, in die sich der Total-Abstinenzler Ströbele auf Wahlkampftour schwang, um in den Kneipen und Cafés des Szene-Bezirks seine Flyer zu verteilen, können den Ausschlag nicht gegeben haben. Vielleicht dann doch jener Mischung aus "Grundsätzen und Pragmatismus", die der große Vorsitzende Joschka Fischer in seiner Dankesrede bei der Wahlparty im Berliner Tempodrom als ausschlaggebendes Moment des grünen Erfolgs nannte.

Ströbele selbst konnte an dem Fest nicht teilnehmen, nachdem ihm am Freitag ein Mitglied der rechtsradikalen Szene mit einer Eisenstange am Kopf verletzt hatte und er alle weiteren Termine absagen musste. Doch die Kopfschmerzen werden dem einstigen RAF-Strafverteidiger und Mitgründer der "taz" angesichts dieses Wählerzuspruchs rasch vergehen - angesichts des absehbaren knappen Vorsprungs für Rot-Grün wird sein Gewicht in der grünen Fraktion künftig noch steigen. Und so wie ich Ströbele seit über 20 Jahren kenne, wird er zu seinen Grundsätzen, die man früher außenpolitisch "Anti-Imperialismus" und innenpolitisch "Bürgerrechte" nannte, stehen - und dem Pragmatismus Joschka manche gequälte Sorgenfalte entlocken.

Aber das ist gut so. Die Grünen haben den Zugewinn nicht nur ihrer Anpassungsfähigkeit, sondern auch ihrer Widerborstigkeit zu verdanken - und eben deshalb hat eine Mehrheit aus dem Zentrum der Hauptstadt diesen unbestechlichen Anwalt ins Parlament geschickt. Manchmal kann man sich als Kreuzberger eben doch noch wie in Kleinbonum fühlen...