Krieg in der Ukraine: Fluchtkorridore – neuer Versuch
Größte Metropolen der Ukraine bleiben umkämpft, eingeschlossene Zivilisten ohne Wasser, Strom, Telefon und Internet. Kriegsparteien machen sich gegenseitig für das Scheitern humanitärer Korridore verantwortlich
Obwohl alle Meldungen beider Seiten aus dem Kriegsgebiet in der Ukraine mit Vorsicht zu genießen sind, lassen sich zum Verlauf der Kämpfe nach Abgleich der Quellen einige gesicherte Feststellungen treffen.
Fluchtkorridore aus vier Städten – nach Russland
Als Ergebnis eines Telefonats zwischen dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron mit seinen russischen Amtskollegen Wladimir Putin sollen in vier Städten – Kiew, Charkiw, Mariupol und Sumy – über einen Waffenstillstand humanitäre Korridore zur Evakuierung von Zivilisten geschaffen werden.
Die Evakuierungsrouten führen dabei nach Russland und Belarus, was automatisch bedeutet, dass sie von Ukrainern mit Verbindung zu eigenen Regierungsstellen wahrscheinlich nicht genutzt werden.
Die meisten ukrainischen Kriegsflüchtlinge halten sich aktuell in Polen auf. Im Gegensatz zur ersten Krise im Donbass flüchten nur sehr wenige Ukrainer ins benachbarte Russland – laut Radio France Internationale sind dies etwa 50.000 von mehr als 1,2 Millionen Kriegsflüchtlingen.
Humanitäre Katastrophe in Mariupol
Besonders brisant ist die Lage dabei in Mariupol, der östlichsten noch von ukranischen Truppen gehaltenen Großstadt im Land. Es galt als Hauptquartier der Regierungstruppen im Donbass und ist von der russischen Armee, die nun mit der Eroberung begonnen hat, komplett eingeschlossen.
Die Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" spricht von katastrophalen Verhältnissen für die dortige Zivilbevölkerung. Es gebe kein Wasser, keinen Strom, keine Heizung, kein Internet und keine Telefonverbindungen mehr. Hilfsgüter in die Stadt zu bringen, sei unmöglich, die Bewohner schmelzen Schnee zur Gewinnung von Trinkwasser.
Allgemein ist das Donbass-Gebiet weiterhin Zentrum der Kämpfe. Aus dem Rebellengebiet in Lugansk meldeten die Behörden der einseitig von Russland anerkannten "Volksrepublik" am Morgen den Einschlag einer ukrainischen Rakete auf ein Öldepot gemeldet. Unabhängige Prüfungen, wie und wo gefeuert wird, sind im Donbass kaum noch möglich. Nach einer Meldung vom gestrigen Sonntag haben die letzten OSZE-Beobachter das Donbass-Gebiet inzwischen verlassen.
Vorangegangene Versuche, humanitäre Fluchtkorridore einzurichten, waren bereits gescheitert, wofür sich beide Kriegsparteien gegenseitig verantwortlich machen. Beide werfen jeweils dem Gegner vor, Flüchtende beschossen zu haben. So auch in Irpen, einem Vorort von Kiew, wo jetzt laut dem ukrainischen TV-Sender Suspilne immerhin 2.000 Bewohner den umkämpften Ort verlassen konnten. Dort gibt es ebenfalls weder Strom noch Wasser noch Nahrung.
Zahlreiche ukrainische Bahnhöfe sind mit Flüchtenden überfüllt, während man auf den Autostraßen wegen vieler Kontrollen und langer Staus nur langsam vorwärts kommt. Humanitäre Korridore waren Gegenstand von Verhandlungen, die beide Kriegsparteien mehrfach in Weißrussland geführt hatten und die heute fortgesetzt werden sollen.
Vormarsch der Russen im Süden – anhaltende Metropolenkämpfe
Erfolge erzielen die russischen Truppen beim Vormarsch im Süden des Landes, wo sie den Flughafen von Mykolajiw einnehmen konnten. Bei Kriegsausbruch konnten sie hier von der Halbinsel Krim aus ins ukrainische Hinterland vorstoßen. In der Region hatten sie mit Cherson vor wenigen Tagen auch die erste ukrainische Großstadt unter Kontrolle gebracht. Die Ukrainer sprechen vom Plan einer Rückeroberung. Inwieweit dieser Plan realistisch ist, bleibt wegen der widersprüchlichen Nachrichtenlage vorerst unklar.
In Zentrum der Kämpfe stehen neben den bereits erwähnten Regionen vor allem das Umland der beiden größten ukrainischen Großstädte Kiew und Charkiw. Sie stehen beide seit mehreren Tagen unter Attacken, sind aber noch überwiegend unter ukrainischer Kontrolle. In Kiew wurde auch heute wieder Luftalarm ausgelöst. Nach Aussagen der ukrainischen Regierung befindet sich Präsident Wolodymyr Selenskyj weiterhin dort. Er habe auch nicht vor, die Stadt zu verlassen.
Zahlreiche Festnahmen bei Antikriegsprotesten in Russland
In Russland kam es am Wochenende wieder zu zahlreichen Antikriegsprotesten und Festnahmen. Dabei kam es nach Berichten in russischen Sozialen Netzwerken auch zu drastischer Polizeigewalt. So kursiert eine Audioaufnahme von einer konkreten Moskauer Polizeiwache, auf der die Misshandlung einer Inhaftierten dokumentiert sein soll.
Die Aufnahme wurde von der oppositionellen Zeitung Nowaja Gaseta als authentisch eingestuft und veröffentlicht. Nach Angaben des Menschenrechtsprojekts OVD-Info gab es seit Kriegsbeginn in Russland knapp 13.500 Festnahmen aktiver Kriegsgegner, deren Namen getrennt nach Regionen dokumentiert werden. Wie viele von ihnen wieder auf freien Fuß gesetzt wurden und wie viele nach wie vor inhaftiert sind, ist nicht bekannt. Auch OVD-Info hat mit erheblichen Einschränkungen seiner Tätigkeit zu kämpfen und ist im Land aus "ausländischer Agent" registriert.