Krieg und Debattenkultur: Ist es Einfalt oder Angst?
Telepolis-Leitartikel: Kriegswillige und Pazifisten stehen sich immer unversöhnlicher gegenüber. Warum ein Blick in die Geschichte lohnt. Und warum Telepolis dazu Hermann Hesse empfiehlt.
Krieg wird so lange sein, als die Mehrzahl der Menschen noch nicht in jenem Goetheschen Reich des Geistes mitleben kann. Krieg wird noch lange sein, er wird vielleicht immer sein. Dennoch ist die Überwindung des Krieges nach wie vor unser edelstes Ziel und die letzte Konsequenz abendländisch-christlicher Gesittung.
Hermann Hesse, O Freunde, nicht diese Töne!, 1914
Und als der Krieg im vierten Lenz
keinen Ausblick auf Frieden bot.
Da zog der Soldat seine Konsequenz
und starb den Heldentod.
Bertolt Brecht, Die Legende vom toten Soldaten, 1922
Wann hat dieser Irrsinn eigentlich begonnen, fragt man sich angesichts der Schmähungen, Abkanzelungen, abwertenden Wortschöpfungen und Angriffe, die das Netz überfluten, sobald es um die Ukraine geht, konkreter: den russischen Angriffskrieg auf das Land westlich des Moskauer Einflussbereichs und östlich des Nato-Raums? Es war doch nicht immer so, dass sich die Lager in gefühlter Gänze kompromisslos und wutschäumend gegenüberstanden.
War es die sogenannte Flüchtlingskrise ab 2015? Die vor Angst triefende Corona-Zeit? Oder doch schließlich dieser Krieg, der global gesehen nur einer von vielen ist, für die Europäer aber erstmals nach Jahrzehnten des Friedens wieder spürbar macht, was Geo- und Interessenpolitik bedeutet?
Es heißt ja, die Wahrheit sei das erste Opfer des Krieges. Dabei denkt wohl niemand an die zerbombte Streitkultur, deren Trümmer heute, 2023, rauchend aus den Zeitungsseiten und dem Netz ragen wie die neugotischen Fassadenbögen des World Trade Centers aus den Schuttbergen am Abend des 11. Septembers 2001.
Als die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht und die Publizistin Alice Schwarzer unlängst ein "Manifest für den Frieden" veröffentlichten, dem wohl Zehntausende auf die Straße folgten, wurde kübelweise Jauche über sie vergossen.
Von "Lumpenpazifisten" war da im Spiegel aus der Feder eines Kolumnisten zu lesen, der sein Fähnchen seit Jahren gefühlt in die Winde desjenigen hängt, der ihm mehr Zeilengeld zahlt.
Sogar das Springerblatt Die Welt immerhin hatte mehr Anstand und löschte die "Lumpen" online aus einem auch ohne dieses wenig schmeichelhafte Bestimmungswort noch recht eindeutigen Titel eines Kommentars.
Medien und Politik marschieren längst in Reih und Glied an der Heimatfront. Sie werde wöchentlich 14.000-mal als Kriegstreiberin bezeichnet, beklagte sich die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann unlängst in einem Interview. Zugleich macht sie in erster Reihe Stimmung gegen jene Friedensaktivisten, die eben keine Schönwetterpazifisten sind.
Das funktioniert nicht ohne intellektuelle und menschliche Herabsetzung des politischen Gegners, was sie bei ihrem Lamento freilich zu erwähnen vergisst. Den Erstunterzeichnern des "Manifests für Frieden", darunter Alexander Kluge, Gerhard Polt, Edgar Selge, Martin Walser und Juli Zeh, ohne die unser Land kulturell zweifelsohne ärmer dastünde, spricht sie en passant das Vermögen ab, unter Einsatz des Denkens Erkenntnisse zu gewinnen, wenn sie schreibt, sie maße sich (anders als die Genannten eben!) nicht an, eine "Intellektuelle" zu sein.
Dass Walser und Kluge ihre Position aus der Weltkriegserfahrung heraus begründen, dessen Schrecken auch im Denken vieler Nachgeborener politisch widerhallt, wird damit beiseite gewischt.
Strack-Zimmermann steht damit für einen Typus zeitgenössischer Politiker, der – parteiübergreifend – die neue bellizistische Staatsräson nicht nur verkörpert, sondern als Geschäftsmodell entdeckt hat. Ein weiteres Beispiel ist der Grüne Anton Hofreiter, der seine politische Nische gefühlt im Panzerturm eines Leopard-2 gefunden hat.
Das alles hätte einen gewissen Unterhaltungswert, wenn die Perspektive nicht so düster wäre. Denn durch die konsequente Diffamierung Andersdenkender – also jener, die auf Diplomatie als Friedensinstrument beharren –, rückt der Frieden in die Ferne. Und indem er in die Ferne rückt, spitzt sich die Lage an der "Heimatfront" zu. Da ist Wagenknecht dann nicht mehr "moralisch verkommen" (Tagesspiegel) oder "Lumpenpazifistin" (Spiegel), sondern nur noch ein "menschlich komplett verdorbener Zellhaufen" (Podcaster Bastian "Ich bin ein Kind des WDR" Bielendorfer auf Twitter).
Dass ein Einzelner einen solchen Tweet veröffentlicht, kann passieren. Das ist ja auch erst mal okay, denn andernorts artikuliert sich die Verfasstheit von Mitmenschen mit mutmaßlich vergleichbarer Psyche deutlich verheerender, wie wir in Hamburg-Alsterdorf dieser Tage erleben mussten.
Wie bezeichnend aber ist es für den moralischen und demokratischen Zustand eines, nämlich dieses, unseres Landes, wenn einem solchen Tweet kein Aufschrei folgt? Wenn erst das Musk’sche Twitter eingreifen und den Kommentar sperren muss? Wenn der Autor dies als "bedauerlich" bezeichnet und auf seiner Aussage beharrt?
Hilmar Klute hat dieser Tage in der Süddeutschen Zeitung dankenswerterweise auf einen Vorkriegsessay Hermann Hesses hingewiesen. "O Freunde, nicht diese Töne!", schrieb der Literat, gedruckt wurde der Text am 3. November 1914 auf den ersten beiden Seiten (!) der Neuen Zürcher Zeitung.
In seinem Beitrag beklagte Hesse eine "unheilvolle Verwirrung des Denkens" angesichts des begonnen Weltenbrandes. Und eben jene intellektuellen oder intellektuell verstandenen Frontstellungen, die wir heute auch erleben. Hesse plädierte für eine verbale und politische Abrüstung, er schreibt:
Alle diese Äußerungen, vom frech erfundenen "Gerücht" bis zum Hetzartikel, vom Boykott "feindlicher" Kunst bis zum Schmähwort gegen ganze Völker, beruhen auf einem Mangel des Denkens, auf einer geistigen Bequemlichkeit, die man jedem kämpfenden Soldaten ohne weiteres zugutehält, die aber einem besonnenen Arbeiter oder Künstler schlecht ansteht.
Ich nehme von vorneherein alle diejenigen von meinem Vorwurf aus, denen schon vorher die Welt bei den Grenzpfählen aufhörte. Die Leute, denen jedes der französischen Malerei erteilte Lob ein Gräuel war und denen bei jedem Fremdwort der Zornschweiß ausbrach, die sind es nicht, von denen hier die Rede ist, die tun weiter, was sie vorher taten.
Aber die anderen alle, die sonst mit mehr oder weniger Bewusstsein am übernationalen Bau der menschlichen Kultur tätig gewesen sind und jetzt plötzlich den Krieg ins Reich des Geistes hinübertragen wollen, die begehen ein Unrecht und einen großen Denkfehler. Sie haben so lange der Menschheit gedient und an das Vorhandensein einer übernationalen Menschheitsidee geglaubt, als dieser Idee kein grobes Geschehen widersprach, als es bequem und selbstverständlich war, so zu denken und zu tun.
Hermann Hesse, O Freunde, nicht diese Töne!, 03.11.1914
Diffamierung als Ausdruck eines Mangels an Denken – ist es das, was wir erleben? Oder ist es bei der Pandemie wie im laufenden europäischen Krieg die Angst, die den Intellekt ebenso erstickt wie die Bereitschaft zum Austausch?
Angst vor dem Flüchtling.
Angst vor dem Virus.
Angst vor dem Russen.
Die Debatte führt geradewegs in die Aktualität. Und in der Tat: Wer von "Schwurblern" und "Querdenkern" schreibt, muss sich nicht mehr mit dem offensichtlichen Versagen der Corona-Politik auseinandersetzen. Wer gegen das "Corona-Regime" auf die Straße geht, muss sich nicht der legitimen Schutzpflicht angesichts einer gesamtgesellschaftlichen Gesundheitskrise stellen.
Wer "Kriegstreiber" am Werk sieht, vermeidet eine Auseinandersetzung mit dem Verbrechen des russischen Krieges. Und wer gegen "Putin-Trolle" zu Felde zieht, kann die Rolle der Nato ignorieren.
Es ist einigermaßen beschwerlich, eine Stellung zwischen diesen Gräben einzunehmen. Man läuft Gefahr, von beiden Seiten ins Feuer genommen zu werden. Bei Telepolis werden wir diese Position dennoch halten. Denn, und dabei ziehen Redaktion und Verlagsleitung an einem Strang, es ist es wichtig, auf die Fehlentwicklungen der politischen und medialen Kultur hinzuweisen. Und dies im Mainstream wie in alternativen Medienangeboten. Täglich. Standhaft.
Wir merken vor allem im Leserforum, dass dieser notwendige Ansatz ein erhebliches Konfliktpotenzial birgt. Doch auch dort werden wir die Debatten weiterhin – und das ist einzigartig in der deutschen Medienlandschaft – möglichst ohne Eingriffe laufen lassen. Wer aber zu Diffamierungen greift, wird künftig konsequenter gesperrt werden. Eine ehrliche Auseinandersetzung mit anderen politischen Positionen ist das Mindeste, was wir in der aktuellen Situation erwarten können. Und das Wichtigste, was wir verteidigen müssen.
Dieser Leitartikel erscheint anstelle der "Themen des Tages" vom 14.03.2023.
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