Kriegsgefahr in Nordsyrien: Beschert Erdogan auch Deutschland ein IS-Problem?
Seite 2: Wer stoppt Erdogan?
Aktuell scheinen die Großmächte USA und Russland einer Erweiterung der türkischen Besatzungszone in Syrien offenbar noch nicht zugestimmt haben. Am 8. Juli besuchte eine US-Delegation die nordsyrischen Städte Kobane und Manbidsch und bekräftigte ihre militärische und logistische Unterstützung für die Syrian Democratic Forces (SDF), die im Kampf gegen den IS die Hauptverbündeten der USA waren.
Auch in den USA gibt es diplomatischen Widerstand. 35 demokratische und republikanische Kongressabgeordnete wandten sich in einem überparteilichen Brief an den amerikanischen Präsidenten Joe Biden und protestierten gegen den Verkauf von F-16-Kampfflugzeugen an die Türkei.
Erdogan habe "seit Jahren wiederholt seine militärische Macht zur Destabilisierung des östlichen Mittelmeerraums, des Nahen Ostens, des Südkaukasus und Nordafrikas eingesetzt". Eine Unterstützung der Türkei durch die USA dürfe solange nicht stattfinden, "bis konkrete Schritte unternommen werden, um Erdogans destabilisierende Handlungen und Verstöße gegen das Völkerrecht zu stoppen", schrieben die Kongressmitglieder an den US-Präsidenten. Aber was hinter den Kulissen ausgehandelt wird – und ob Washington doch noch grünes Licht für eine Invasion gibt – bleibt abzuwarten.
Unbestätigten Informationen zufolge bereitet sich auch die syrische Armee auf einen militärischen Einsatz im Gebiet um Kobanê, Manbidsch und Tel Rifat sowie im Nordosten des Gouvernements Aleppo vor, um einer möglichen türkischen Invasion entgegenzutreten, berichtet North Press.
Schwere militärische Ausrüstung in großem Umfang soll demnach nach Aleppo gebracht worden sein. Am vergangenen Dienstag schickten syrische und russische Streitkräfte militärische Verstärkung, darunter Soldaten, Militärfahrzeuge und schwere Waffen, in ein zehn Kilometer von Manbidsch entferntes Dorf.
2016 hatten die syrisch-kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG und YPJ die Stadt Manbidsch von der Herrschaft des IS befreit. Seitdem steht die Stadt unter der Kontrolle des mit den SDF verbündeten Manbidsch-Militärrats (MMC).
Ebenfalls am Dienstag beschossen türkische Streitkräfte von einem Militärstützpunkt in der Stadt Marea aus Dörfer im nördlichen Umland von Aleppo mit Artilleriegranaten. Seit zwei Wochen eskaliert die Türkei durch Beschuss der Dörfer im Norden Aleppos.
Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es zu Zusammenstößen zwischen den türkischen Streitkräften, ihren islamistischen Söldnern der SNA mit den Soldaten des syrischen Regimes, Russlands und den SDF kommt. Die Vorsitzende des Exekutivkomitees des Syrischen Demokratischen Rates (SDC), Ilham Ahmed, sagte am Dienstag, der Rat stehe mit allen aktiven Parteien, die in die syrische Frage involviert sind, im Dialog, – einschließlich Russland –, um die türkische Aggression zu verhindern.
Nach wochenlangen intensiven Gesprächen zwischen Vertretern der SDF und Vertretern der syrischen Regierung unter der Schirmherrschaft Russlands soll nun eine Vereinbarung getroffen worden sein, die gemeinsame militärische Maßnahmen zum Schutz der syrischen Gebiete vor einer neuen türkischen Besatzung vorsieht.
Dies könnte der Beginn einer Wende im Tauziehen zwischen der Autonomieverwaltung und der Regierung in Damaskus sein, wer in Nordsyrien das Sagen hat und den Weg für Kompromisse ebnen.
Von der Nato oder der EU ist absehbar keine Unterstützung zu erwarten. Obwohl die SDF als Bodentruppe Teil der Anti-IS-Allianz mit der Nato ist, schaut die Nato mit Rücksicht auf den Partner Türkei in Nordsyrien weg.
Auf einer UN-Sitzung vor einigen Wochen zeigte Erdogan eine Landkarte, auf der die 30 Kilometer ins Landesinnere reichende türkische Besatzungszone – Erdogan nennt das "Sicherheitszone" – eingezeichnet ist, die er mit einer Million Syrer aus der Türkei besiedeln will. Niemand äußerte Kritik an den Plänen, was einer Zustimmung gleichkommt.
Mit werteorientierter Außenpolitik und demokratischen Werten hat das nichts zu tun – und Menschenrechte sind sowieso keine echte Kategorie in den internationalen Beziehungen. "Wenn wir sagen, im Fall des aktuellen Krieges (in der Ukraine, Anm. d. Verf.) brauchen wir Unterstützung gegen den Autokraten Wladimir Putin und holen uns die durch Zugeständnisse gegenüber anderen Autokraten, ist das weder überzeugend noch werteorientiert", meint der Politikwissenschaftler Ismail Küpeli.
Sowohl Deutschland als auch die übrigen Nato-Länder hätten ein starkes Interesse daran, die Türkei im Konflikt mit Russland auf ihrer Seite zu halten. Dafür seien sie bereit, die Kurden zu opfern. "Wer von Russland fordert, das Völkerrecht in vollem Umfang einzuhalten, darf auch zu den völkerrechtswidrigen Angriffen des Nato-Partners Türkei im Nordirak nicht schweigen", erklärt die internationale Ärzteorganisation IPPNW.
Sie kritisiert die Zustimmung Schwedens und Finnland zu den türkischen Forderungen und erinnert an das Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags, das die Operationen in Syrien und im Nordirak nicht mit dem Völkerrecht in Einklang bringen konnte.
Erdogan liebt historische Daten für seine militärischen Expansionen im benachbarten Ausland. Am 19. Juli feiert Nordsyrien das zehnjährige Bestehen der demokratischen Autonomieregion, auch Rojava genannt. Eigentlich ein perfektes Datum für die Einmarschpläne des türkischen Präsidenten. Aber am 19. Juli muss er sich erst in Teheran mit dem iranischen Mullah-Regime und dem russischen Präsidenten abstimmen. Denn bei Tel Rifaat gibt es schiitische Dörfer, die quasi unter dem Schutz Irans stehen.
Trotz der täglichen Drohnen- und Artillerieangriffe bereitet sich Nordsyrien auf das zehnjährige Jubiläum mit Festakten vor. Weltweit sind ebenfalls viele Solidaritätsfeste geplant. Und es gibt auch etwas zu feiern. Trotz aller Embargos, den Angriffen seitens des türkischen Staates und der Schläferzellen des IS, sind die Gebiete der Autonomieverwaltung die stabilsten Gebiete der Region.
Nirgendwo in der Region wird die kulturelle Vielfalt der Gesellschaften so deutlich gezeigt und gelebt. Alle Bereiche des Lebens, von Selbstverteidigung über Gesundheit und Bildungswesen, bis hin zur sozialen Ökonomie und Ökologie wurden neu organisiert und demokratisiert.
Zu hoher Preis für den Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands
Erdogan hat Finnland und Schweden weitreichende Zugeständnisse abgerungen, unter anderem die Aufhebung des Waffenembargos, die Gleichsetzung der kurdischen Selbstverteidigungseinheiten YPG/YPJ und der Syrian Democratic Forces (SDF), deren Teil die YPG/YPJ sind, mit der kriminalisierten Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und das Ende der Unterstützung der Autonomieverwaltung.
Durch diesen Deal ist nun auch die türkisch-kurdische Opposition im Exil gefährdet. Küpeli weist auf die Wichtigkeit des Exils für die demokratische Opposition hin:
Das, was in der Türkei nicht mehr aussprechbar ist, organisiert sich inzwischen zum größten Teil im europäischen Exil. Es ist wichtig, diese relativ freien Räume zu erhalten. Wenn man eine demokratische Zukunft für die Türkei möchte, muss es Räume geben, wo sich die demokratische Opposition zusammenschließen kann.
Ismail Küpeli, Politikwissenschaftler
Genau das will der türkische Präsident verhindern. Kurz nach der Unterzeichnung des Memorandums mit Schweden und Finnland sowie der türkischen Zustimmung zum Nato-Beitritt beider Länder präsentierte Erdogan eine Liste von über 100 Personen, die die beiden Länder an die Türkei ausliefern sollen, darunter zahlreiche regierungskritische Journalisten.
Erdogan versucht, was ihm in Deutschland schon weitgehend gelungen ist – dass die sehr weitgehende türkische Definition, was "Terrorismus" sei, von Schweden und Finnland übernommen wird. Letztendlich würde die Übernahme der türkischen Terrorismusdefinition bedeuten, antidemokratische Maßnahmen, wie zum Beispiel die Verfolgung kurdischer Oppositioneller, unabhängiger Journalisten und Menschenrechtsaktivisten mitzutragen.
Allerdings gibt es in Schweden im Gegensatz zur Türkei eine Gewaltenteilung. Die Regierung kann also einem Gericht nicht einfach sagen, dass es diese oder jene Person ausliefern soll. Vollständig eingebürgerte Personen können sowieso nicht ausgeliefert werden.
Personen ohne schwedische Staatsbürgerschaft könnten zwar ausgeliefert werden, "jedoch nur, wenn dies mit schwedischem Recht und der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar ist". Das weiß auch Erdogan. Daher droht er, dem türkischen Parlament die Ratifizierung nicht zu empfehlen, sollte seiner Forderung nicht Folge geleistet werden.
Denn noch ist der Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens nicht sicher. Nun müssen erst alle Parlamente der 30 Nato-Staaten den Beitrittgesuchen zustimmen.
Empfohlener redaktioneller Inhalt
Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.