Kriegsgeschichten: Was wird uns da erzählt?

Storytelling im Journalismus: Höchst emotional, höchst wirksam – und oft höchst einseitig. Gut gegen Böse, Weiß gegen Schwarz. Wie unsere Wahrnehmung geformt wird.

Storys, wie die hier gleich diskutierten, sind herzergreifend. Und sollen es offenbar auch sein: Ein Baby aus Israel in der Gewalt von Hamas-Entführern. Oder aber die Geschichte vom achtjährigen Jehor aus der Ukraine, der im umkämpften Mariupol inmitten von Bombenhagel Tagebuch führt.

Dieser Tage sind Beiträge wie jene erwähnten beiden Storys massiv zu finden in Leitmedien hierzulande. Gerade in Kriegszeiten wird im Journalismus Storytelling betrieben: Höchst emotional, höchst wirksam – und oft höchst einseitig

Es folgen kritische Anmerkungen zu einem ganz besonderen Narrativ – nämlich dem narrativen. Oder anders gesagt: Nachdenkliches zum "narrativistischen" Narrativ.

Eine Frau, die ein kleines Kind an sich drückt, umringt von bewaffneten Männern. Sie hüllen sie in ein Tuch, nur der Kopf des Kindes guckt noch heraus. Die Frau muss in ein Auto steigen. Das Video einer Überwachungskamera hat die israelische Armee eigenen Angaben zufolge in Chan Junis im Gazastreifen sichergestellt.

Es soll die aus dem Kibbuz Nir Os verschleppte 32-jährige Schiri Bibas mit ihrem Baby Kfir und ihrem vierjährigen Sohn Ariel in den ersten Tagen nach dem 7. Oktober nach ihrer Entführung zeigen – lebend.

Bayerischer Rundfunk

Was es für szenische Einstiege braucht

Ein klassischer szenischer Einstieg, typisch für das Storytelling. So beginnt dieser Beitrag von ARD-Korrespondentin Bettina Meier aus dem Studio des Bayerischen Rundfunks in Tel Aviv.

Der Beitrag hat alles, was eine massenwirksame Story braucht: Eine klare, deutlich positiv dargestellte Hauptperson, hier als Heldin mit ihren beiden kleinen Kindern, die durchgehend auch mit ihren Namen genannt werden, komplett sympathisch und vollkommen unschuldig, weil total wehrlos.

Und einen ebenso klar negativ bewerteten Gegner – die Entführer der Hamas.

Screenshots aus dem Beitrag

Die Rolle offizieller Stimmen im Storytelling

Dann kommt im ARD-Beitrag, wie oft in solchen journalistischen Stücken seit dem 7. Oktober, der israelische Armeesprecher Daniel Hagari zu Wort. Er ist in dieser Geschichte nicht irgendeine Nebenfigur, sondern hier gleichsam ein Erzähler der Story:

"Wir sorgen uns um das Wohlergehen von Schiri, Ariel und Kfir", wird Hagari zitiert. Und dann folgen Textbausteine wie das Wort "herzzerreißend" gleichsam wie aus einem Storytelling-Lehrbuch – allerdings zugleich mit eingebauter Rechtfertigung der eigenen Militär-Politik:

Die Mutter so umzingelt von Terroristen zu sehen, wie sie ihre Babys festhält, ist furchtbar und herzzerreißend. Aber es ist auch der Aufruf, dass wir unsere Geiseln schnell nach Hause bringen müssen. Die, die unseren Einsatz in Gaza in Frage stellen, aber nicht den Anstand haben zu verlangen, dass die Hamas unsere Geiseln freilässt. Die sollten sich diese verängstigte Frau ansehen, Schiri, wie sie ihre Babys festhält.

Opfer und Täter: Klare Rollenverteilung

Das gleiche Storytelling mit der extrem klaren Positionierung von Opfern und Tätern vermitteln im Beitrag weitere offizielle Vertreter des Staates Israel:

Premier Benjamin Netanjahu habe sich so geäußert: "Wir werden diese Entführer von Babys und Müttern zur Rechenschaft ziehen. Sie werden damit nicht davonkommen". Israels Präsident Jitzchak Herzog habe geschrieben – und jetzt kommt sogar ein trauriger Superlativ: "Ein Wort: Barbarei. Kfir Bibas ist nur ein Jahr alt, die jüngste Geisel der Welt."

Die Macht starker Gefühle: Wut und Empathie

Der ARD-Beitrag steht unter der Überschrift "Geisel-Video löst Wut in Israel aus". Es ist kein Geheimnis, dass erfolgreiches Storytelling mit starken Gefühlen verbunden sein kann. Beziehungsweise verbunden wird mit solchen heftigen Emotionen wie "Wut", die zu Handlungsorientierungen werden können. Oder das auch sollen.

Alternative Perspektiven: Die andere Seite der Geschichte

Erst am Ende des Beitrages wird kurz eine andere Perspektive erwähnt – die des Gegners in dieser Story: Im November 2023 habe "die Hamas behauptet, dass Mutter Schiri Bibas und ihre zwei Kinder bei einem Luftangriff der israelischen Armee getötet wurden" (muss sicher heißen: "getötet worden seien", d.A.).

Das israelische Militär habe den Tod jedoch nicht bestätigt. Aber mit Abstand betrachtet: Falls dem denn so wäre, wie die Hamas-Führung anscheinend behauptet hatte, wäre die gesamte vorherige Erzählung noch viel fragwürdiger, als sie ohnehin schon wirkt.

Um nicht missverstanden zu werden: Das Geschehen mit dem Hamas-Überfall auf Israel am 7.10. 2023 und den israelischen Angriffen seitdem ist furchtbar und tragisch für sämtliche betroffenen Menschen. Die Opfer terroristischer wie auch staatlicher und überhaupt aller Gewalt verdienen jede Empathie. Menschen (wie allen Wesen) sollte möglichst keine Gewalt angetan werden.

Narrative als Inszenierungen: Politik und Medien

Hier aber geht es um politische und mediale Narrative als Inszenierungen. Damit ist nicht gemeint, dass das vermittelte Geschehen nicht den Tatsachen entspreche. Sondern dass typischerweise ein sehr persönliches Schicksal genutzt wird, um per Storytelling bestimmte deutliche Wirkungen zu erzielen.

Durch Erzählen der "richtigen" Geschichte. Einzelschicksal statt Einordnung. Große Nähe zu ausgewählten, oft realen Ereignissen statt sachlich-distanzierter Aufklärung. Story statt History. Ein weiteres aktuelles Beispiel dieser anscheinend unendlichen Geschichte(-n) folgt.