Kriegsmüde Ukrainer: Ohne Begeisterung an die Front

Ausbildung ukrainischer Unteroffiziere. Bild: armyinform

Selenskyj will härter gegen Bürger vorgehen, die sich dem Kriegsdienst gegen Russland entziehen. Hohe Verluste im Kampf müssen ausgeglichen werden. Was die Ukraine gegen Unwillige unternimmt.

US-amerikanische Schätzungen gehen davon aus, dass rund 70.000 Ukrainer im Krieg gegen Russland bisher gefallen sind. Der neuste, von Selenskyj selbst bestätigte Bericht spricht von knapp 62.000.

Gingen zu Beginn des Krieges noch viele ukrainische Soldaten voller Begeisterung in den Abwehrkampf gegen die russische Invasion, hat sich dieses Bild inzwischen geändert und selbst äußerst Ukraine-patriotische deutsche Medien sprechen von einer zunehmenden Kriegsmüdigkeit.

Dieser Umstand und die zahlreichen Gefallenen oder schwer Verwundeten im privaten Umfeld vieler Ukrainer führen dazu, dass immer mehr ukrainische Männer nicht kämpfen wollen. Selbst führende Kiewer Militärs geben das zu, wie der Oberbefehlshaber der Streitkräfte Walerij Saluschnyi in der US-Zeitschrift The Economist.

Er sieht auch die zunehmend begrenzten Möglichkeiten, Fronttruppen mit frischen Einheiten auszuwechseln als Motivationshemmschuh. Daran ändert auch der Kampf mit moderner westlicher Ausrüstung nichts, wenn sie von abgekämpften Einheiten dauerhaft bedient werden müssen.

Druck auf ins Ausland geflohene Ukrainer

Da die Ukraine von der Bevölkerungsgröße nur ein Drittel des Potenzials an rekrutierbaren Frontkämpfern wie der Kriegsgegner besitzt, gibt es immer mehr radikale Maßnahmen, um die Gefallenen im Kampfgebiet zu ersetzen. So wollte Präsident Selenskyj im September männliche Kriegsflüchtlinge, die sich im Ausland aufhalten, durch Auslieferungsverfahren wieder in die Ukraine verbringen lassen. Ein Problem dabei ist, dass nach dem Europäischen Auslieferungsabkommen Militärstrafvergehen ausgenommen sind.

Jedoch können ukrainische Konsulate Druck aufbauen, wenn sich etwa Kriegsflüchtlinge neue Ausweispapiere beschaffen wollen. Ohne diese ist wiederum die Aufrechterhaltung der aktuellen Aufenthaltsberechtigung nicht möglich. Die Vereinigung Connection e.V. ("Internationale Arbeit für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure") hält es zudem für möglich, dass Polen oder andere Länder ukrainische Staatsbürger zur Ausreise nötigen.

Aktuell läuft in der Ukraine eine neue Rekrutierungswelle, bei der man damit lockt, Einfluss auf die Einheit zu haben, in der man danach dient. Gesucht werden zunehmend Leute, die keinerlei militärische Erfahrung haben.

Bedarf hat die Armee auch an Programmierern oder Köchen, die man nun versucht, in die Armee zu locken. Wie beim Kriegsgegner Russland wirbt man dabei mit im Vergleich zum allgemeinen Lebensstandard guten Konditionen.

Keine Alternative zum Dienst an der Front

Doch die Freiwilligkeit ist weiter nicht die Regel. Straßenkontrollen versuchen Wehrpflichtige aufzuspüren, die den Behörden bisher entgangen sind. Wer sich der Einberufung entzieht, dem droht im schlimmsten Fall ein Strafverfahren.

Selenskyj forderte erst in dieser Woche eine Verschärfung der Maßnahmen des ukrainischen Innenministeriums, Wehrpflichtige notfalls zwangsweise dem Militär zuzuführen, wenn sie sich auf Aufforderung nicht zum Kriegsdienst melden.

Ein Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen besteht in der Ukraine nicht, von der Wehrpflicht ausgenommen sind nur gesundheitlich untaugliche Männer oder alleinerziehende Väter. Ein ziviler Ersatzdienst wurde nur bis zum Kriegsausbruch angeboten.

Auch Frauen werden verstärkt für das Militär aktiviert

Männer von 18 bis 60 Jahren können die Ukraine nur noch illegal verlassen, wer den Kriegsdienst verweigert, dem droht strafrechtliche Verfolgung bis zur Inhaftierung oder die Zwangsrekrutierung. Seit Oktober müssen sich auch ukrainische Frauen mit medizinischer oder pharmazeutischer Ausbildung für die Wehrpflicht registrieren.

Diese Maßnahme ist in der Bevölkerung äußerst unpopulär, war ursprünglich schon im ersten Kriegsjahr geplant und wurde dann verschoben. In den Streitkräften der Ukraine gibt es aktuell 42.000 Soldatinnen. Vor einer Ausweitung von Rekrutierungen von Frauen schreckt Kiew noch zurück, da das Land ebenso wie Kriegsgegner Russland ein massives Geburtendefizit hat.

Wenn Frauen kämpfen, dann meist nicht aus feministischen Motiven, die oft in deutschen Medien dargestellt wird, sondern eher aus finanzieller Not. Feminismus ist in den ukrainischen Streitkräften weniger verbreitet, realistische Presseberichte gibt es eher über Diskriminierung und sexuelle Belästigung.

Probleme: Korruption und Binnenflucht

Doch all diese Maßnahmen greifen nicht ausreichend. Ein Problem ist die in der Ukraine weiter allgegenwärtige Korruption, die es oft ermöglicht, sich vom Kriegsdienst freizukaufen, wenn man dafür die nötigen Mittel hat – von um die 8.000 Euro ist die Rede.

Wie massiv dadurch die Rekrutierung eingeschränkt wird, zeigt sich auch daran, dass sich die Regierung genötigt sah, alle Leitungen von Einberufungsämtern durch nicht mehr fronttaugliche Soldaten zu ersetzen. Ein noch nicht verabschiedetes Gesetzesvorhaben Selenskyjs will Korruption für die Dauer des Krieges sogar mit Hochverrat gleichsetzen.

Viele Ukrainer sind weiterhin offiziell nicht dort registriert, wo sie tatsächlich wohnen und deswegen für die Einberufungsstellen schwer erreichbar. Dieses Problem wurde 2022 durch zahlreiche Binnenflüchtlinge innerhalb des Landes noch verstärkt.