Krisenmodus: Ist Deutschland zu konservativ für die multipolare Welt?
Die Schuldenbremse bleibt heilig. Konservatismus trifft dysfunktionalen Staat. Wie sich fehlende Investitionen bald rächen könnten. (Teil 2 und Schluss)
Im direkten Vergleich zu Asien scheitert die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland, insbesondere an konservativen Strukturen und einer entsprechenden Mentalität. Dies wird an zwei Beispielen sehr deutlich: an der Frage der Ressourcen für die Infrastruktur und die Transformation der Wirtschaft weg von den fossilen Energieträgern und Zeit in der Frage der Migration.
Mehr als 60 Prozent der Deutschen sind gegen die Aufhebung der Schuldenbremse. Während in China ganze Industriezweige vom Staat dirigiert und aus dem Boden gestampft werden, ist es in Deutschland nicht möglich, einige Milliarden Euro für die Sanierung der maroden Schienen der Bahn freizubekommen, geschweige denn einen Bahnhof in Stuttgart oder einen Flughafen in der Hauptstadt in zehn Jahren fertigzustellen.
Diese Schuldenbremse ist der von allen Parteien der Mitte in der Verfassung festgeschriebene und von der AfD am heftigsten verteidigte Würgegriff eines ideologischen Dogmas, dass staatliches Agieren und Planung in der Wirtschaft schlecht seien, und deshalb sind die Staatsausgaben kleinzuhalten.
Warum mehr Staat und mehr Plan gerade jetzt nötig sind
Dabei wird mehr Staat und mehr Plan gebraucht, wenn Deutschland seinen Wohlstand nicht verlieren will: Wir müssen von China die Planung der Wirtschaft lernen! Die Funktionseliten in den USA beginnen das zu verstehen und verabschieden sich auch vom neoliberalen Dogma.
Im Kompromiss zwischen den zwei großen Parteien wurden in den vergangenen Jahren unter dem Label der "Bidenomics" sechs Billionen Dollar in Infrastruktur, Bildung und Soziales investiert.
Es ist offensichtlich: Die Infrastruktur ist ein entscheidender Faktor für jeden Wirtschaftsstandort. Gerade die Transformation zu neuen Wirtschaftszweigen braucht intensive Investition in neue Infrastruktur.
Bismarck wusste in Zeiten des Umbruchs, was zu tun war
Deutschland konnte Ende des 19. Jahrhunderts eine dramatische industrielle Entwicklung hinlegen und alle Nachbarn abhängen, weil unter Bismarck die größten Infrastrukturprogramme durchgeführt wurden. Die damalige Eisenbahn und Verwaltung war die mit Abstand beste der Welt und die Voraussetzung für den Aufstieg zur Industriemacht.
Diese Infrastruktur blieb auch im 20. Jahrhundert das Maß aller Dinge, funktioniert aber im 21. Jahrhundert einfach nicht mehr adäquat. Es war oft so in der Geschichte, dass Länder und Regionen, deren Infrastruktur für eine aus der Mode kommende Produktionsweise besonders gut waren, sich mit den notwendigen Veränderungen für die neue Zeit besonders schwertaten.
Deutschland verschlief auch die Modernisierung und Digitalisierung der Verwaltung und Infrastruktur, weil diese in der alten industriellen Zeit so besonders gut war.
Schuldenbremse als Innovationsbremse
Dieser Konservatismus der alten Strukturen und die Fesseln der Schuldenbremse führen zu einem dysfunktionalen Staat, der in den kommenden Jahren nicht in Stande sein wird, die notwendigen Maßnahmen für eine solide funktionierende Infrastruktur, geschweige denn für die Entwicklung neuer Wirtschaftszweige sicherzustellen.
Nicht mehrere, sondern hunderte Milliarden Euro sind für den Ausbau, Digitalisierung und Modernisierung der Infrastruktur nötig, alleine wenn wir an Energie, Transport, Gesundheit und Bildung denken.
Wir wissen heute, dass in den kommenden Jahrzehnten die großen Gewinne mit den postfossilen Zweigen der Wirtschaft zu realisieren sein werden: Besonders für die ressourcenarmen Regionen wird die große Akkumulationsmaschine des Kapitalismus die grüne Ökonomie sein. Wir leben in keiner offenen Situation mehr.
Deutschland könnte mehr
Deutschland hätte dank seiner historisch starken Ingenieurskunst, Technologie und Handwerk gute Voraussetzungen, ein führendes Land für diese Zukunftstechnologien zu werden. Wie das verschlafen wird, zeigt sich am Paradebeispiel des Elektroautos.
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Der Wissenschafts-Influencer Neil de Grasse vergleicht den Verbrenner-Motor mit der Pferdekutsche zu Beginn des 20. Jahrhunderts. So werden in 30 bis 50 Jahren Verbrenner-Motoren zu einem Vintage-Liebhaber-Objekt oder zum Fortbewegungsmittel von Armen in unterentwickelten Regionen.
Die Städte mit Wohlstand werden in der Mobilität komplett elektrisiert sein. Ich habe zu diesem Thema vor rund zehn Jahren einen Ingenieur aus dem VW-Werk in Wolfsburg interviewt. Er sagte mir, dass alle im Werk, auch alle im Vorstand wüssten, dass man auf Elektroauto umsteigen muss.
Die Angst der Verbrenner-Spezialisten
Die Vorstände waren aber meist Ingenieure, die in Verbrenner-Technik ausgebildet waren. Die Umsteuerung auf Elektromotoren hätte ihre Position gefährdet, wodurch es einen Trend gab, alles noch so lange weiterlaufen zu lassen, wie es nur geht.
Die laufende Maschine von VW war konservativ und sträubte sich gegen die notwendige Innovation. Der Impuls von außen blieb aus, während der chinesische Staat als erster den Import von Verbrennern bis 2030 limitierte und die notwendige Infrastruktur für E-Autos aus dem Boden gestampft hat.
So wurde hier die große Transformation verschlafen. Jetzt sind wir an einem Punkt angelangt, wo die Wirtschaftswoche feststellen muss: "Der Niedergang von Deutschlands Leitindustrie ist kaum noch aufzuhalten".
Arbeitskraft fehlt auf allen Ebenen
Ein anderer zentraler Faktor für die wirtschaftliche Entwicklung in Asien ist die Arbeitskraft. Die neuen asiatischen Wirtschaftsmächte verfügen über ein riesiges Reservoir an billiger Arbeitskraft, während die Bevölkerung in Europa und Deutschland schrumpft.
Gerade jetzt sind wir an einer kritischen Schwelle, wo die geburtenstarken Boomer-Jahrgänge nach und nach in Rente gehen. Arbeitskraft fehlt auf allen Ebenen. Die neuen Wirtschaftsmächte haben in den vergangenen Dekaden mit massiven Investitionen in den Bildungssektor im Bereich der hochqualifizierten Arbeitskräfte stark aufgeholt.
Der Westen, allen voran die USA, hatte den großen Standortvorteil, der Magnet Nummer eins für Hochqualifizierte zu sein. Deutschland war immer im Hintertreffen und verpasst gerade eine bessere Position in der Zukunft. Zwar gibt es die großen Migrationsbewegungen der letzten zwei Jahrzehnte, die den Bevölkerungsrückgang kompensieren konnten.
Infrastruktur für Aufnahme und Integration ungenügend
Aber die Infrastruktur für die Aufnahme und Integration von Migranten steht – wie alles andere in Deutschland – kurz vor dem Kollaps. Auch und vor allem durch die fehlende Infrastruktur für die Integration von Migranten sinkt die Zustimmung für weitere Migration in der Bevölkerung.
Dazu kommen die spezifischen konservativen Barrieren einer deutschen Gesellschaft, in der die Staatspartei CDU noch vor 20 Jahren sich weigerte, Deutschland als Einwanderungsland zu sehen.
Die Überforderung der Infrastruktur und die Stimmungsmache der konservativen Kräfte hat inzwischen dazu geführt, dass bis zu zwei Drittel der Deutschen in Migration mehr Risiken als Chancen sehen, obwohl Deutschland rein ökonomisch auf sehr viel mehr Arbeitskräfte in den kommenden Jahrzehnten angewiesen ist.
Hilfloser Ruf nach mehr Kindern
Durch die Alterung der Gesellschaft wachsen immer mehr Menschen aus dem Arbeitsmarkt hinaus als hinein, was ein großes Problem für eine wachsende und dynamische Wirtschaft ist, und der immer größere Anteil von alten Menschen braucht gleichzeitig mehr Arbeitskräfte in der Pflege und Versorgung.
Der hilflose Ruf der Konservativen nach mehr Kindern wäre nicht nur kurzfristig keine Lösung (Mehr Kinder brauchen mehr Pflege, Erzieherinnen und Lehrkräfte), sondern leugnet die generelle Entwicklung aller Gesellschaften, dass bei Zunahme von Wohlstand und Bildung bei gleichzeitigem Rückgang der Religiosität generell ein Bevölkerungsrückgang einsetzt.
Ganz deutlich zeigt sich dies auch am Einbruch der Geburtenrate in der zweiten Migrantengeneration im Vergleich zur ersten.
Parteienlandschaft in Bewegung
Die politische Seite der deutschen Krise zeigt sich in der Erosion der liberalen Parteien der Mitte, während die Ränder, insbesondere die Rechten, immer weiterwachsen. Die auf großen Volksparteien basierende Parteiendemokratie in BRD war in der Nachkriegszeit sehr stabil.
Es gab zunächst drei, dann später vier große Parteien, die föderal im Bundesrat ausbalanciert wurden, aber auch Richtungsmehrheiten bilden konnten, wie die Sozial-liberale Koalition für die kulturellen Reformen der 1970er-Jahre und eine neue Ostpolitik, oder die CDU-FDP-Regierung für die "geistig-moralische Wende" und Beginn des Neoliberalismus in den 1980er-Jahren.
Solche stabilen Regierungskoalitionen sind jetzt sehr unwahrscheinlich. Mit dem Schrumpfen der großen Volksparteien und dem Aufstieg der rechtsradikalen AfD (und dem wahrscheinlichen Erfolg einer linkspopulistischen Partei) ist es im Gegensatz zu Ländern mit einem Präsidialsystem nun kaum noch möglich, stabile Koalitionen links oder rechts der Mitte zu organisieren.
Ampel-Performance beschleunigt den Abstieg
Die dramatisch schlechte Performance der Ampel-Regierung ist auch ein Ausdruck dieser neuen Konstellation. Die vielen kleinen Parteien machen stabile Koalitionen schwieriger, und somit auch eine Regierungspolitik, die langfristige und ressourcenintensive Maßnahmen für notwendige Infrastruktur und Transformation vornehmen kann.
Somit ist der Weg des deutschen Abstiegs in den 2020er-Jahren vorgezeichnet. Ein nicht funktionierendes "Weiter so" und Selbstblockaden in einer Zeit, in der der Staat – ähnlich wie in Zeiten von Bismarck oder nach dem Zweiten Weltkrieg – gigantische Aufgaben für die Infrastruktur des Landes wahrnehmen müsste.
Statt der notwendigen staatlich geplanten Investitionen und einer mit der nötigen Infrastruktur regulierten Massenmigration wird Deutschland in der globalen Systemkonkurrenz ins Hintertreffen und in eine Abstiegsspirale geraten. Die gestärkten destruktiven Kräfte von rechts werden mit der Illusion des alten Deutschland, das für immer vergangen ist, diesen Abstieg massiv beschleunigen.
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