Kritik der deutschen Corona-Politik

Ein Jahr staatlicher Orientierungslosigkeit. Und ein Vergleich mit China. Ein Kommentar

Vor einem Jahr, am 22. März 2020, wurde der erste Lockdown in Deutschland beschlossen. Drei Tage später stellte der Bundestag eine "epidemische Lage von nationaler Tragweite" fest. Seitdem erleben wir ein Wechselspiel von Öffnungen und Schließungen, begleitet von Hoffnungen und Frustrationen.

Seit wenigen Tagen besteht die traurige Gewissheit, dass es so weitergehen wird. Denn die Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) am 3. März hat ein buntes Kaleidoskop neuer Maßnahmen beschlossen. Zu wenig, um den Wunsch nach Freiheit zu erfüllen, aber zu viel an Lockerungen, um die Covid-19-Pandemie in den Griff zu bekommen.

Vergleich mit anderen Ländern

Ein Jahr nach dem ersten Lockdown sowie 71.000 Tote später ist es an der Zeit, eine Zwischenbilanz zu ziehen. Bisher wurden in Deutschland 2,5 Mio. Menschen positiv getestet. Wegen des beträchtlichen Dunkelfeldes dürfte die Zahl dieser "Fälle" nach Schätzung des Robert-Koch-Instituts um den Faktor vier bis sechs höher liegen.

Um das deutsche Geschehen einordnen zu können, ist es hilfreich, auf andere Länder zu schauen. Auf den ersten Blick fällt auf, dass es große Staaten gibt, deren Zahlen dramatisch schlechter sind als die deutschen, etwa die USA mit 29 Millionen Fällen und 517.000 Toten sowie Brasilien mit elf Millionen Fällen und 257.000 Toten.

Beides sind Staaten, deren Präsidenten die Gefährlichkeit des Sars-CoV-2-Virus leugneten und folglich zu wenig zum Schutz der ihnen anvertrauten Menschen unternahmen. Aber auch hinsichtlich Größe und Sozialstruktur besser mit Deutschland vergleichbare Staaten sind deutlich schlechter durch die Corona-Krise gekommen. Dies betrifft Großbritannien mit 4,2 Millionen Fällen und 124.000 Toten, Frankreich mit 3,8 Millionen Fällen und 87.000 Toten sowie Italien mit drei Millionen Fällen und 98.000 Toten.

Die günstigen Vergleichszahlen für Deutschland sind jedoch kein Grund zur Selbstzufriedenheit. Eine zutreffende Beurteilung erfordert auch einen Vergleich mit den Gesellschaften, deren Infektionszahlen erstaunlich niedrig sind, etwa:

  • Volksrepublik China: 1,4 Milliarden Menschen; 101.000 Fälle;
  • Japan: 127 Millionen Menschen, 435.000 Fälle;
  • Südkorea: 51 Millionen menschen, 91.000 Fälle;
  • Australien: 25 Millionen Einwohner, 29.000 Fälle;
  • Taiwan: 24 Millionen Menschen, 1.000 Fälle;
  • Neuseeland: Fünf Millionen Menschen, 2.400 Fälle.

Die angegebenen Infektionszahlen beruhen auf der Datenbasis der Johns Hopkins University (JHU).

Noch bemerkenswerter als die Infektionszahlen sind die Corona-Todeszahlen der besagten Staaten. Sie liegen nach JHU-Statistik in China, Taiwan, Australien und Neuseeland seit Wochen nahezu bei Null, im Falle von Südkorea und Japan im unteren bis mittleren zweistelligen Bereich pro Tag. Die entsprechenden Zahlen für Deutschland bewegen sich derzeit im dreistelligen Bereich, nachdem sie wochenlang deutlich über 1.000 gelegen haben.

Nun behaupten Kritiker ohne jeglichen Beleg, dass man den offiziellen Zahlen des kommunistischen China nicht trauen könne. Für die Richtigkeit der chinesischen Angaben spricht jedenfalls, dass sich Chinas Wirtschaft nachweisbar von den Einbrüchen zu Beginn der Corona-Krise rasant erholt hat. Auch das öffentliche Leben läuft wieder weitgehend normal ab.

Doch selbst wenn man China misstraut, bleiben die extrem niederen Corona-Zahlen der übrigen (nicht-kommunistischen) Staaten Südostasiens. Es mag sein, dass einige dieser Länder durch ihre Insellage begünstigt werden. Das unterscheidet sie von der Lage Deutschlands, das an nicht weniger als neun Nachbarländer grenzt.

Doch wenn die Insellage entscheidend für die niederen Corona-Zahlen wäre, ist unerklärbar, weshalb Großbritannien so massiv von der Pandemie getroffen worden ist. Ähnliches gilt für die USA –umschlossen von zwei Ozeanen, nur Grenzen zu Kanada und Mexiko –, Spanien – neben Frankreich und Portugal–, Schweden – mit Grenzen zu Norwegen und Finnland. Auch Italien hat vergleichsweise kurze Außengrenzen.

Dies legt nahe, dass neben der Geografie auch andere Faktoren wesentlich für die Heftigkeit des Pandemiegeschehens sind, so etwa kulturelle Prägung, Disziplin der Bevölkerung, Problembewusstsein, Überzeugungskraft der politischen Führung.

Wo steht Deutschland im Frühjahr 2021?

Deutschland ist ein föderaler Staat, dessen Staatsgewalt zwischen Bund und Ländern aufgeteilt ist. Dies erschwert naturgemäß die Findung einer gemeinsamen Linie. Die Bund-Länder-Konferenzen des letzten Jahres belegen das.

Wenn nach stundenlanger Debatte eine gemeinsame Strategie erarbeitet worden ist, zeigte sich oft noch am selben Tag, dass einige Ministerpräsidenten eigene Wege gehen wollen. Nicht selten betrifft das die Länder, die vor Landtagswahlen stehen. Derzeit also Sachsen-Anhalt mit Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU), Baden-Württemberg mit dem Grünen-Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann und Rheinland-Pfalz unter Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD).

Ähnliches gilt für den die Kanzlerkandidatur anstrebenden CDU-Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Armin Laschet. Die Versuchung, sich mittels "Erleichterungen" die Wählergunst zu erschleichen, ist unübersehbar.

Untermalt wird das durch einen Politpoker, der unterschwellig durch Lobbyinteressen gesteuert wird. Das ständige Wechselspiel von Öffnen und Schließen lässt Menschen verzagen und ermüden und an der Sinnhaftigkeit staatlichen Handelns zweifeln. Das Ergebnis kann man an sonnigen Tagen sehen, wenn immer mehr – an sich rechtstreue – Menschen unter Verzicht auf Abstandsregeln und Maskenschutz auf Plätze und Uferpromenaden drängen.

Die Anzeichen mehren sich, dass wir im Blindflug in die dritte Corona-Welle steuern. Viele sehen eine Gesellschaft am Limit. Das gilt für Schüler, Lehrer, Eltern, Künstler, Gastwirte und Geschäftsinhaber ebenso wie für eingesperrte Senioren in Altersheimen und deren Pflegepersonal.

Vor allem gilt der Befund für die Politik. Wo Langzeitkonzepte und entschiedenes Handeln nötig wären, drohen Politiker die Nerven zu verlieren und werden – dem gesellschaftlichen Druck nachgebend – zum Verteiler von Gefälligkeiten.

Beklemmend ist, dass die Menschenverluste, die gesundheitlichen Langzeitschäden und die psychosozialen Verwerfungen durch gigantische volkswirtschaftliche Schäden begleitet werden. Viele Existenzen stehen vor dem Ruin, obwohl sich der Staat für Hilfsleistungen in nie dagewesener Weise verschuldet hat. Die "Bazooka" zeigt keine Langzeitwirkung, weil das Grundübel, die Pandemie, fortbesteht. Ein Ende ist nicht absehbar. Wir bewegen uns von einem Lockdown zum nächsten.

Ein scheuer Blick auf China

Mir ist die Schwierigkeit eines Vergleichs zwischen Deutschland und der Volksrepublik China bewusst. Aber vergleichen heißt nicht gleichsetzen und schon gleich gar nicht billigen. Es ist zu vermuten, dass das, was China besser gemacht hat als andere Länder, den Besonderheiten eines autoritären Systems geschuldet ist. Dort wird nicht demokratisch abgewogen oder gar juristisch geprüft, sondern es wird gehandelt und zwar, wenn nötig, rigoros.

All das, was dort innerhalb weniger Wochen durchgeführt worden ist, wäre im demokratischen Rechtsstaat in Jahren nicht möglich, vieles wahrscheinlich überhaupt nicht. Oder kann man sich vorstellen, dass bei uns binnen weniger Tage Krankenhäuser aus dem Boden gestampft werden? Dass rigide Ausgangssperren durchgesetzt werden? Oder dass ein perfektioniertes digitales Überwachungssystem installiert wird? Allein die Entwicklung einer freiwilligen Corona-Warn-App dauerte hierzulande endlos lange, bevor sie wegen strenger Datenschutzanforderungen zum zahnlosen Ladenhüter wurde.

Keine Frage, China hat seinen Bürgern viel zugemutet. Die Einschränkungen waren nach westlichen Maßstäben unerträglich hart. Doch der Erfolg gab der autoritär agierenden Parteiführung recht. Die Pandemie wurde eingehegt. Die Todeszahlen sind annähernd bei null. Die Wirtschaft boomt. Die Gestalter der Politik finden im Land hohe Anerkennung. Menschenrechtsverstöße sind kein Thema mehr. China setzt seinen Weg zur führenden Weltmacht unbeirrt fort.

Zwischenbilanz und ein sinnvoller Weg

Die Volksrepublik China ist in vielfacher Hinsicht kein Modell für Deutschland. Trotzdem kann man von China lernen: Man muss in Extremsituationen wissen, was man will und das als richtig Erkannte zielstrebig umsetzen.

Die eigenen Erfahrungen des vergangenen Jahres zeigen, dass das Motto "Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass" in Zeiten einer entfesselten Seuche nicht funktioniert. Man kann nicht bekämpfen und lockern zugleich. Wer beides will, erreicht weder die ersehnte Freiheit noch das Ende der Pandemie.

Wahrscheinlich wäre es besser und viel billiger gewesen, das Land im Dezember und Januar für ein paar Wochen komplett herunterzufahren. Dann wäre das Übel erfolgreich an der Wurzel bekämpft worden. Denn so bedrohlich exponentielles Wachstum bei R-Werten über eins ist, so schnell nähern sich die Infektionszahlen bei R-Werten unter eins der Nulllinie an.

Der durch einen verschärften Lockdown entstandene Schaden wäre durch eine anspringende Wirtschaft, den Nachholbedarf an Gütern und Dienstleistungen sowie durch die Zuversicht der aus der Zwangshaft "befreiten" Menschen schnell ausgeglichen. Doch davon sind wir leider weit entfernt.

Unsere Verfassung steht einer kraftvollen Lösung nicht im Wege. Das Gegenteil ist der Fall. Die halbherzigen und oft widersprüchlichen Maßnahmen der vergangenen Monate werden immer mehr zur Belastungsprobe für den Rechtsstaat.

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