Krugman redet Klartext
Der Wirtschaftsnobelpreisträger benennt die Bundesrepublik als den wichtigsten Verursacher des sich entfaltenden ökonomischen Desasters in der Eurozone
Selten hat ein Leitartikel in der New York Times (NYT), dem führenden meinungsbildenden Medium der USA, die Wirtschaftspolitik der BRD dermaßen scharf kritisiert wie der am 30. November publizierte Kommentar des Wirtschaftsnobelpreisträgers Paul Krugman.
Der beliebte und einflussreiche Ökonom, der als der prominenteste Exponent der nachfrageorientierten Wirtschaftstheorie des Keynesianismus gilt, nahm in seiner Kolumne wahrlich kein Blatt vor dem Mund. Die Eurozone befinde sich am Rande einer Deflation, die den Währungsraum in eine "verlorene Dekade" stürzen könne, ähnlich der schweren deflationären Krise, die Japan in den 90er Jahren heimsuchte.
Die Schuldigen, deren "Fehlverhalten" für das "Zeitlupen-Desaster" in Europa verantwortlich sei, befänden sich nicht in "Griechenland oder Italien oder Frankreich", sie seien in "Deutschland" zu suchen:
Wenn du versuchst, die Länder zu identifizieren, deren Politik sich vor der Krise außerhalb der Norm ("out of line") bewegte und nach Krisenausbruch Europa schadete, und die sich weigern, aus dieser Erfahrung zu lernen, dann deutet alles auf Deutschland als den übelsten Akteur.
Paul Krugman
Bei seiner Argumentation verweist Krugman auf die extremen Unterschiede bei der Preis- und der Lohnentwicklung in Deutschland einerseits und Frankreich und den USA andrerseits. Demnach sind seit der Euroeinführung 1999 die Preise französischer Waren und Dienstleistungen (ausgedrückt im BIP-Deflator jährlich um 1,7 Prozent angestiegen, bei den Lohnstückkosten betrug der Anstieg 1,9 Prozent. Beide Zahlen befänden sich laut Krugman in Übereinstimmung mit dem Inflationsziel der EZB von knapp unter zwei Prozent. Eine ähnliche Entwicklung der Warenpreise und Lohnstückkosten habe auch in den USA stattgefunden. In Deutschland sei der BIP-Deflator hingegen nur um einen Prozentpunkt gestiegen, die Lohnstückkosten sogar nur um 0,5 Prozent, was sich "weit außerhalb der Norm" befunden habe.
Der Nobelpreisträger verweist hier selbstverständlich nur auf die Folgen des deutschen Sozialkahlschlags, der kurz nach der Euroeinführung von der Schröder-Fischer Regierung im Rahmen der Hartz-Arbeitsgesetze durchgepeitscht wurde - und der zu einer massiven Absenkung des Lohnniveaus sowie zur Ausbildung des europaweit größten Niedriglohnsektors führte (siehe hierzu: Happy Birthday, Schweinesystem!). Lohnkahlschlag, weitgehende Prekarisierung des Arbeitslebens und gnadenlose Arbeitshetze ermöglichten erst die massiven Konkurrenzvorteile der deutschen Exportindustrie, die sich in den von Krugman genannten Zahlen manifestieren.
Deutschlands Politik: "Ruiniere deinen Nachbarn"
Diese Konkurrenzvorteile führten zur Ausbildung der gigantischen Handels- und Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands gegenüber der Eurozone, die von Krugman als das eigentliche "Wettbewerbsproblem" in dem europäischen Währungsraum ausgemacht werden:
In anderen Worten, wenn es überhaupt ein Wettbewerbsproblem in Europa gibt, dann wird es überwiegend durch Deutschlands Beggar-thy-neighbor-Politik verursacht, die im Endeffekt Deflation in die Nachbarstaaten exportiert.
Paul Krugman
Der Begriff "Beggar-thy-neighbor" (Wörtlich; "Schnorre bei deinem Nachbarn". Sinngemäß übersetzt: "Ruiniere deinen Nachbarn") etablierte sich im angelsächsischen Sprachraum während der großen Weltwirtschaftskrise in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts. Er bezeichnet eine aggressive Wirtschaftspolitik, die darauf abzielt, vermittels Handelsüberschüssen die Krisenfolgen auf andere Länder abzuwälzen.
Mit den Handelsüberschüssen werden auch Arbeitslosigkeit und Schulden exportiert. Die Waren, die in der BRD im Rahmen der Handelsüberschüsse produziert werden und hier "Arbeitsplätze sichern", führen zum Niedergang der Industrien in den Zielländern dieser Exportoffensiven - und zum Anstieg der dortigen Arbeitslosenquote. Die deutschen Handelsüberschüsse generieren selbstverständlich Defizite in den Importländern, die zu deren weiterer Verschuldung führen. Und das ist der springende, absurde Punkt an der deutschen Beggar-thy-neighbor-Politik: Das hiesige exportfixierte Modell beruht letztendlich auf der Auftürmung eben jener Auslandsschulden, die im deutschen Krisendiskurs so vehement verteufelt werden.
Wie genau dieser nun endlich von Krugman offen thematisierte Ausplünderungsmechanismus im Fall der Bundesrepublik funktioniert, konnten Telepolis-Leser schon vor mehreren Jahren nachvollziehen (siehe: Der Exportüberschussweltmeister). Und es war eben diese erfolgreiche deutsche Beggar-thy-neighbor-Politik, die den ungeheuren Machtzuwachs der BRD innerhalb der Eurozone erst ermöglichte, der die europaweite Durchsetzung des nun in die Deflation führenden deutschen Spardiktats zur Folge hatte (Das großgehungerte Deutschland). In dieser machtpolitischen Dominanz Berlins innerhalb der Eurozone ist die Ursache dafür zu suchen, dass "die europäischen Politiker weiterhin entschlossen scheinen, die falschen Länder und falschen Politikansätze für ihr Schicksal verantwortlich zu machen", wie es Krugman formulierte.
Globale Verschuldungsdynamik
Dennoch ist eine Schuldzuweisung Krugmans an die Adresse "der Deutschen" bei nüchterner Betrachtung mit einer entscheidenden Einschränkung zu versehen. Selbstverständlich ist Berlin aufgrund des europaweit oktroyierten Spardiktats für den desaströsen Krisenverlauf in der Eurozone verantwortlich, doch hat die deutsche Beggar-thy-neighbor-Politik die Krise genauso wenig ausgelöst wie die ihr korrespondierende Verschuldungsdynamik in den südlichen Euroländern. Diese gigantischen Ungleichgewichte in den Handelsbilanzen finden sich ja auch in den Handelsbeziehungen zwischen den USA und China - und sie sind nur die Folge einer globalen Verschuldungsdynamik, die unvermindert anhält.
Allein zwischen 2008 und 2013 ist der globale Schuldenberg von 180 Prozent der Weltwirtschaftsleistung auf 212 Prozent geklettert. Hierin äußert sich gerade die gegenwärtige kapitalistische Systemkrise. Der Spätkapitalismus kann ohne diese Schuldenberge - und die daraus erwachsenen Handelsungleichgewichte - nicht mehr funktionieren, weil er an seiner eigenen industriellen Produktivität erstickt. Nur noch vermittels kreditgenerierter Nachfrage kann das System den Anschein der Funktionsfähigkeit aufrecht erhalten (siehe hierzu: Die Krise kurz erklärt).
Dies bedeutet aber letztendlich auch, dass Krugmans nachfrageorientierter Keynesianismus die Krise ebenso wenig lösen kann wie der deutsche Sparsadismus. Konjunkturpakete und Deficit Spending können aber den vollen Ausbruch der Krisendynamik zumindest hinauszögern. Zudem besteht ein essenzieller politischer Unterschied zwischen dem neoliberalen Sparwahn und der nachfrageorientierten Krisenpolitik. Die mit dem fulminant gescheiterten Spardiktat einhergehende Unterwerfung unter die sich zuspitzenden "Sachzwänge" der kollabierenden "Märkte" fördert die krisenbedingte Herausbildung von rechtsextremen Ideologien der Unterwerfung, wie sie gegenwärtig in sehr vielen europäischen Ländern zu beobachten ist. Der Neoliberalismus erweist sich auch in dieser Systemkrise als ein Steigbügelhalter des Faschismus. Linkskeynesianische Politik, wie sie von Krugman propagiert wird, eröffnet hingegen mit ihrer Priorisierung der Massennachfrage zumindest die emanzipatorische Option, im weiteren Krisenverlauf die menschlichen Bedürfnisse vor die amoklaufenden "Sachzwänge" des Marktes zu stellen.
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