Kunst meets Singularität

Videoinstallation von Julika Rudelius

Das Gogbot 2010 Festival in Enschede

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Die technologische Singularität: 1958 verwendete Stanislav Ulam diesen Terminus in Bezug auf einer Unterhaltung, die er mit dem Mathematiker John von Neumann geführt hatte und meinte damit einen durch technologischen Fortschritt ausgelösten Wendepunkt in der menschlichen Geschichte.

In den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts griff der Mathematiker und Science Fiction Autor Vernor Vinge den Begriff wieder auf und verlieh ihm eine schärfere Definition, indem er damit den Moment der Geburt einer übermenschlichen maschinellen Intelligenz bezeichnete. Wenn heute von der technologischen Singularität die Rede ist, ist damit eigentlich immer der Zeitpunkt gemeint, an dem ein Computer nicht nur Intelligenz, sondern auch Kreativität entwickelt und von da an in der Lage ist, seine eigene Nachfolgegeneration zu konstruieren. Anders ausgedrückt markiert die Singularität also jenen evolutionären Umschwung, an dem unsere Kreativität nicht nur von Maschinen emuliert, sondern auch übertroffen werden wird. Bislang war dieses Thema vor allem Spielfeld für Spekulationen von Futurologen, Ökonomen oder Soziologen und Forschungsgebiet für Informatiker, Kybernetiker und Neurophysiologen.

Gogbot Festival Alle Bilder: Thorsten Küper

Es geht um Mathematik, Prozessoren, Code die sich zu einem schöpferischen Geist vereinigen, kreativ werden. Die Wissenschaft hat sich seit Jahrzehnten zu den analytischen Aspekten geäußert. Doch was sagen die Kreativen – die Künstler also – zu kreativen Maschinen? Dieser Frage widmete sich das diesjährige Gogbot Festival organisiert von der Planetart-Gruppe. Unter dem Titel „The Singularity is Near – Resitance is Futile“ versammelten die Holländer wieder einmal internationale Kulturschaffende, Musiker und Performer um die große Kirche im holländischen Enschede und ließen sie dort ihre Interpretationen von Singularität und Transhumanismus vorstellen.

Jaap Mutter

Vor allem die verwischende Grenze zwischen Maschine und Mensch ist es, die die Künstler fasziniert, also mehr die Vorstufe zur Singularität. Sowie Jaap Mutter, der sich auf dem Vorplatz der Kirche in Enschede selbst zur Hardware reduzierte. Mutter hing in einem Geschirr, Elektroden waren an seinen Muskeln befestigt, das Schalpult stand den Besuchern der Ausstellung zur freien Verfügung. Mit Stromstössen konnten sie den Performer steuern, wie einen Roboter, den sie an den heimischen PC anschließen.

Neverporn Community

Gleich daneben führte die Neverporn Community ihr Non Stop „Theaterstück“ auf. Ihre Bühne ein OP, in dem wahnsinnige Chirurgen und roboterhafte Krankenschwester-Zombies an Menschmaschinen herum doktern. Ob er darin nun eine Fetischliveshow oder ein Theaterstück über Transhumanismus sehen will, bleibt dem Betrachter überlassen. Näher am „real existierenden Transhumanismus“ war da schon Julika Rudelius mit ihrer Videoinstallation. Sie porträtierte 5 US-Amerikanerinnen und ließ sie über ihre persönliche Sicht von Altern und plastischer Chirurgie berichten. Die daraus resultierenden Bodymodifikationen waren um einiges grotesker als das Theaterblutgeschnippel von Pixelporn auf dem Vorplatz.

In diesen Kontext passten ganz hervorragend Transhumanismuspäpste wie (-oder Päpstinnen) wie Natasha Vita-More, die in einem Vortrag ihren „Primo Posthumane“ vorstellte – den Mensch der Zukunft, durch Biotechnologie und Robotik so gut wie unsterblich.

Charmanter, weil mit einem Augenzwinkern umgesetzt, wirkte da schon die Installation „The Lucky Mold Project“ des Japaners Hideki Kanno. Er versucht Bakterien mit einem Glücksgen zu züchten, denn die Fähigkeit Glück zu haben erhöht, wie wir alle wissen, Lebensqualität und Lebenserwartung ganz gewaltig. Ausgerechnet unter dem Alter der Grote Kerk in Enschede konnte man Kannos Schöpfungsexperiment begutachten und kam dabei zu dem Schluss, dass die Kirche in Holland deutlich mehr Humor haben muss als in Deutschland.

The Lucky Mold Project

Nach einer Stunde auf dem Marktplatz und in der Grote Kerk jedoch noch immer keine Spur von Singularität. Stattdessen stand einmal mehr die Virtualität im Rampenlicht. Virtual Reality Anwendungen wurden an jeder Ecke vorgestellt.

Das Projekt „W“ von Crew ermöglichte Besuchern per Helmdisplay und Kamera über dem Kopf, den Körper mit einer anderen Person zu tauschen und sich sogar selbst zu begegnen. Für einige Minuten erlebte man das Gefühl, vom eigenen Körper abgekoppelt zu sein, konnte sogar sich selbst die Hand schütteln.

„W“ von Crew

Der „Tentacle“ von Kees Klaassen ähnelt einem Körperteil, das von einer H.R. Giger Kreatur transplantiert worden sein könnte. Über einen aufgesetzten Visorhelm konnten Freiwillige mit Kopfbewegungen die Kamera am Ende des Tentakels ausrichten.

Tentacle

Adri Schokkers Mensch-Maschinen-Schnittstelle geht andere Wege. Der Nutzer von ME-TV trägt einen Brainscanner und wird beim Erreichen eines Meditativen Zustands mit einem vollständigen Abbild seiner selbst auf einem kleinen Monitor belohnt.

ME-TV

Wenn es um Virtuelle Realität geht, darf natürlich auch das Metaversum von SecondLife nicht fehlen. Pixelporn Art zeigte tabulosen Roboter-Pixelmännchen-Sex im Innenraum der großen Kirche in Enschede und ernteten dafür ratlose Blicke der Besucher und das eine oder andere Schmunzeln.

An anderer Stelle hatten Enthusiasten in SecondLife ein parallel verlaufendes virtuelles Gogbot in Szene gesetzt, in dem bekannte Vertreter der virtuellen Kunst ihre Interpretation von Singularität zeigten, wobei zwei (Second)Live – Auftritte des australischen Multimediakünstler Stelarc – besser gesagt dessen Avatar – an Donnerstag und Sonntag die Höhepunkte des virtuellen Programms bildeten. Möglicherweise die „transhumanste“ Performance des diesjährigen Gogbots.

SecondLive-Auftritt von Stelarc

Die Singularität, eigentlich Ehrengast in diesem Jahr, war an keiner Stelle anzutreffen, weder in der echten Welt noch im Metaversum. Vielmehr stehen die Künstler genauso ratlos wie die Wissenschaftler auf der Schwelle zum großen Wendepunkt, schauen zum Horizont und wissen nicht so ganz, worauf sie warten sollen.

Boersens & Lukacs „Everytime“

Der technologischen Singularität am nächsten kam vielleicht Boersens & Lukacs „Everytime“. Auf einem Monitor ließen die Künstler einen glatzköpfigen und schwer derangierten Britney Spears eine traurige Ballade in Endlosschleife trällern und lieferten damit die vielleicht beste Prognose einer künstlichen Intelligenz ab: Als ein desorientiertes Kunstwesen, das mit seiner eigenen Kreativität nichts anzufangen weiß.

Gogbot Festival

Bedauerlich, dass das diesjährige Gogbot so verregnet war. Übrigens empfiehlt es sich dringend, es eher am Samstag, als Sonntags zu besuchen. Sonst erlebt man Enschede als Geisterstadt.