Kurioses über die Aufmerksamkeitsstörung ADHS

Seite 2: Normen vs. Natur

Bleiben wir noch einen Moment bei gesellschaftlichen Normen: Im moralischen Bereich hält sich der Staat eher zurück. Hans dürfte beispielsweise das Essen einer Currywurst unter den ablehnenden Blicken seiner Tochter Petra, einer überzeugten Veganerin, anders erfahren; Petra findet den Pelzmantel ihrer Mutter furchtbar und wird sich wahrscheinlich eher nicht unter Nerzzüchtern ihre besten Freunde suchen.

In Grenzfällen, wie Schwangerschaftsabbruch, Sterbehilfe oder auch dem Inzestverbot (bei einwilligenden Erwachsenen), machen Gesetzgeber und Gerichte aber durchaus auch von moralischen Begründungen Gebrauch. Dann wird - unter Berufung auf humanistische, religiöse, traditionelle oder andere Quellen - ein Standpunkt für allgemeinverbindlich erklärt.

Wenn das Reich der Normen mit der Natur verwechselt wird, entsteht aber ein Problem: Dann scheint es keine gesellschaftliche Festlegung mehr, sondern schlicht ein natürlicher Sachverhalt. Ein bedeutender Unterschied ist, dass man über eine Festlegung, eine Normsetzung streiten und die Grenzen gegebenenfalls anders ziehen kann; wenn sich einem aber eine Flutwelle nähert, wird eine Demonstration oder Diskussion nichts bewirken.

Nun sind seit den 1980ern die Biologische Psychiatrie und Psychologie beziehungsweise die Neuropsychologie (wieder einmal) im Aufwind. Getrieben durch neue Erkenntnisse der Molekularbiologie und neue Bildgebungsverfahren der Medizin - erst die Positronenemissionstomographie, heute vor allem die Kernspintomographie - hat sich im Denken vieler Forscher (wieder einmal) durchgesetzt, psychische Störungen seien Gehirnstörungen.

Schon in der Antike bis ins 19. Jahrhundert gab es die Vorstellung, das Gemüt der Menschen werde durch eine Störung von Körpersäften (Galle, Blut und Schleim) beeinflusst. Im 19. Jahrhundert entwickelten dann deutsche Psychiater modernere Gehirntheorien psychischer Störungen, etwa Wilhelm Griesinger (1817-1868), die Emil Kraepelin (1856-1926) später fortführte.

Wie weit ist man heute, mehr als 170 Jahre später? In den 1970ern wollten die amerikanischen Psychiater ihr diagnostisches Vorgehen, das damals noch stark von Freuds Seelenlehre geprägt war, auf ein wissenschaftlicheres Fundament stellen. Dabei beriefen sie sich explizit auf Kraepelin. 1980 veröffentlichten sie ihr "wissenschaftliches" Diagnosehandbuch DSM-III (in dem übrigens zum ersten Mal die Aufmerksamkeitsdefizitstörung ADS auftauchte).

2013 erschien dann die übernächste große Überarbeitung, das DSM-5. Hierfür hatten sich die Psychiater vorgenommen, endlich Griesingers alten Traum von einem hirnbasierten System wahrzumachen. Geklappt hat es, bei inzwischen mehreren hundert unterschiedenen psychischen Störungen, für keine einzige!

Es soll nun nicht im Detail darum gehen, wie die Forscherwelt auf diesen riesigen Reinfall reagiert. (Zum Teil natürlich mit der gebetsmühlenartig wiederholten, doch unbewiesenen Behauptung, es sei alles viel komplexer, man brauche noch feinere Messverfahren, noch größere Stichproben, noch viel mehr Geld. Eine andere Gruppe interessiert sich wieder mehr für Philosophie und andere Ansätze.)

Stattdessen will ich hier am Beispiel AHDS aufzeigen, was für einen Bedeutungsunterschied es macht, einem Kind eine soziale Normabweichung oder eine Gehirnstörung zu attestieren.

Naturalistischer Fehlschluss

Wir haben oben gesehen, wie die Störung im neuen ICD-11 beschrieben wird. Unter der Annahme, psychische Störungen seien Gehirnstörungen, hat ein Kind, das unter die Beschreibung von ADHS fällt, also eine Gehirnstörung.

Das klingt wie ein natürlicher Sachverhalt: Etwas im Gehirn ist anders, als es sein sollte, als es bei "normalen" Kindern ist. Eine frühere Vorform von ADHS hieß bis weit ins 20. Jahrhundert noch "Minimaler Hirnschaden" (engl. Minimal Brain Damage, MBD). Viele Forscher und Psychiater meinen das ernst.

Kurioserweise bezieht sich die diagnostische Beschreibung aber gar nicht auf das Gehirn, das Nervensystem oder die Gene. Es geht darin schlicht um Verhaltensauffälligkeiten und die verschiedenen Umgebungen, in denen sich ein Mensch befinden kann. Und um das, was als normales oder abnormales Verhalten gilt.

Auch nachdem man viele Jahrzehnte geforscht und viele Hypothesen ausprobiert hat, bleibt es dabei: Manche Kinder, Jugendliche und jetzt auch immer mehr Erwachsene fallen dadurch auf, dass sie in bestimmten Situationen weniger Aufmerksamkeit haben beziehungsweise sich aktiver/impulsiver Verhalten als andere Kinder.

Mit anderen Worten: Gesellschaftliche Akteure - darunter Ärzte, Eltern, Lehrer, Psychologen - legen erst fest, was sie als unangemessenes Verhalten ansehen. Danach suchen Forscher mit Millionenbudget biologische Entsprechungen, finden sie aber nicht. Darum begehen sie mit der Übertragung der sozialen Norm in den Bereich von Biologie und Neurowissenschaften einen Fehler: einen naturalistischen Fehlschluss; sie verwechseln Kultur und Natur.

Ebenso könnte man fragen: Was ist denn die biologische Entsprechung von Diebstahl? Salopp gesagt interessiert es die Natur aber doch gar nicht, wie unsere Gesellschaft ihr Strafrecht ausformuliert. Ebenso wenig interessiert die Flutwelle eine Demonstration. Es handelt sich schlicht um unterschiedliche Sphären.

Aufrechterhaltung der Normalität

Der Status quo muss aus Perspektive der Biologischen Psychiatrie rätselhaft erscheinen. Es bleibt nur die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, in der die "verborgenen Ursachen" der Störungen endlich entdeckt werden. Das Warten wird wahrscheinlich weitere 170 Jahre dauern - und noch viel länger.

Aus historischem Blickwinkel ergibt sich ein stimmigeres Bild: Neben der Polizei und - zumindest traditionell - der Kirche gibt es eine dritte gesellschaftliche Institution für die Aufrechterhaltung der Normalität: die Psychiatrie ("Es geht um die Anpassung des Individuums an die vorherrschende Normalität"). Michel Foucaults Studien zur Geschichte der Psychiatrie sind nach wie vor lesenswert.

Wohlgemerkt, mit der Beschreibung der Geschichte oder des Status quo ist noch kein Werturteil ausgedrückt. Man kann das gut oder schlecht finden, so wie man beispielsweise dem Gesetzgeber den Vorwurf machen kann, zu viele Schlupflöcher ins Steuergesetz eingebaut zu haben - oder auch nicht. Eine Flutwelle kann man jedoch nicht kritisieren. Das ist eine Sphäre jenseits von Argumenten und Moral.

Und so verhält es sich auch mit Gehirnprozessen: Denen macht man keinen Vorwurf; sie sind, wie sie sind. Wenn man also ADHS bloß als Folge einer Gehirnstörung darstellt, entfernt man das Thema aus dem Bereich von Moral und Gesellschaftspolitik. Das mag entschuldigend wirken, verhindert leider aber nicht die Ausgrenzung der Betroffenen. Vor allem lokalisiert es die Problemursache im Individuum.

Sieht man ADHS hingegen als eine Beschreibung von Verhaltensnormen, die sich nachweislich auch alle paar Jahre beziehungsweise Jahrzehnte ändern, dann ist nicht nur das Kind Adressat von Kritik. Auch derjenige, der die Norm setzt, hier also der Psychiater beziehungsweise seine übergeordnete Vereinigung, muss sich für die Grenzziehung verantworten.

Wie zuvor, ist damit noch keine wertende Haltung ausgedrückt. Das Thema ist aber besprechbar, diskutabel, man kann verschiedene Alternativen einbeziehen. Jeder möge selbst entscheiden, welches Modell eher mit einem liberalen Rechtsstaat und einer Demokratie vereinbar ist. Das heißt nicht, dass man alle Regeln aufgibt; das wäre Anarchie. Es heißt, dass man sich darüber offen miteinander verständigt.