Kurioses über die Aufmerksamkeitsstörung ADHS
Seite 3: Der Einschulungseffekt
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Ich habe eingangs versprochen, mich mit einigen kuriosen Fakten über ADHS zu beschäftigen. In meinem letzten Artikel über das Thema schrieb ich bereits kurz über den Einschulungseffekt: In einer Schulklasse haben die jüngsten Kinder die höchste Wahrscheinlichkeit für eine Diagnose. Das ergibt gar keinen Sinn, wenn man ADHS als Gehirnstörung darstellt.
Manche konnten sich das nicht vorstellen, griffen mich in der Diskussion sogar an. Dank den Autorinnen und Autoren des Versorgungsatlas des Zentralinstituts für die Kassenärztliche Versorgung in Berlin kann ich den Effekt jetzt auch anhand einer Grafik verdeutlichen, in der die echten Daten deutscher Schülerinnen und Schüler dargestellt sind:
Diesen Zusammenhang haben die Forscher ebenfalls für Bundesländer mit einem anderen Stichtag nachgewiesen (Seite 13 im Bericht). Auch dort, wo das Datum in den letzten Jahren gewechselt wurde, konnte man das bestätigen.
International ist der Effekt inzwischen mit Daten von über 15 Millionen Schülerinnen und Schülern in 13 Ländern belegt. Die Wissenschaftler schreiben deutlich, dass dieser Befund nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist: "Insgesamt zeigen 17 der 19 Studien, dass die jüngsten Kinder eines Schuljahres eine erheblich höhere Wahrscheinlichkeit für eine Diagnose und/oder medikamentöse Behandlung hatten als ihre älteren Klassenkameraden." Von den verbleibenden beiden Studien (aus Dänemark), zeigte eine nur einen schwachen Zusammenhang und die andere keinen.
Die deutschen Forscherinnen und Forscher, die den Bericht für den Versorgungsatlas erzeugt haben, beziffern die Unterschiede auch konkret: Bei Kindern der 3. bis 8. Klasse liege die Häufigkeit einer ADHS-Diagnose im Mittel bei 4,8 Prozent. Vergleiche man die im Juni und Juli geborenen Kinder miteinander, liege die Wahrscheinlichkeit für eine Diagnose und medikamentöse Behandlung für die früher Eingeschulten um rund 20 Prozent höher.
Das ist ein beträchtlicher Unterschied! Er ist mit ziemlicher Sicherheit viel größer als alles, was die Hirnforschung oder Genetik bisher über ADHS herausfinden konnte. In das Modell der Biologischen Psychiatrie passt das nicht. Wahrscheinlicher ist vielmehr, dass einige der früher eingeschulten Kinder von ihrer psychologischen Entwicklung her nicht in die Umgebung der Älteren passen.
Regionale Unterschiede
Doch damit noch nicht genug. In einer neueren Untersuchung des Versorgungsatlas wurden regionale Unterschiede bei den ADHS-Diagnosen untersucht. Dabei zeigte sich, dass deren Häufigkeit in vielen Regionen unter 3,3 Prozent liegt, in anderen hingegen über 5,6 Prozent.
Konkret machten die Forscherinnen und Forscher zwei Regionen aus, in denen die Störung besonders selten diagnostiziert wurde: erstens Darmstadt/Frankfurt/Offenbach und Umgebung; zweitens Reutlingen/Stuttgart/Tübingen und Umgebung. Über Jahre hinweg hatte Offenbach mit unter zwei Prozent die niedrigste Rate.
Umgekehrt fanden sie vier Regionen mit besonders vielen Diagnosen: erstens Landau/Neustadt/Speyer und Umgebung; zweitens Celle, Goslar, Hildesheim und Umgebung; drittens Gera und Umgebung; und schließlich viertens Aschaffenburg, Erlangen, Würzburg und Umgebung. Würzburg hatte über Jahre hinweg mit rund zehn Prozent die höchste Rate.
Das bedeutet: Wenn eine Familie mit ihren Kindern von Offenbach nach Würzburg umzieht, dann verfünffacht(!) sich die Wahrscheinlichkeit, dass der Nachwuchs ADHS diagnostiziert bekommt. Die Karte zeigt auch für kleinere Abstände schon erhebliche Unterschiede.
Unter den Bundesländern hatte Hessen mit drei Prozent die niedrigste Quote. Im benachbarten Rheinland-Pfalz war sie mit 5,4 Prozent fast doppelt so hoch. Insgesamt waren im Zeitraum 2009 bis 2016 die Diagnosen in dünn besiedelten ländlichen Kreisen häufiger als in kreisfreien Städten.