Kurioses über die Aufmerksamkeitsstörung ADHS

Seite 4: Kuriose Unterschiede

Solche Unterschiede sind äußerst kurios. Die Forscherinnen und Forscher haben darum verschiedene Faktoren in statistische Modelle einfließen lassen, um sie zu erklären. Einen hundertprozentigen Beweis gibt es hier nicht. Doch der schlüssigste Befund lautet wie folgt:

Kinder und Jugendliche aus Kreisen mit einem niedrigen Anteil an Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit hatten eine ca. 1,3-fach erhöhte Chance für eine ADHS-Diagnose im Vergleich zu Kindern aus Kreisen mit einem höheren Ausländeranteil. […] Ebenfalls war die Dichte von Kinder- und Jugendpsychiatern signifikant mit der ADHS-Diagnose assoziiert.

Versorgungsatlas-Bericht Nr. 18/02, S. 16

Einerseits gab es also dort die meisten Diagnosen, wo die wenigsten Ausländer wohnten. Andererseits stieg die Wahrscheinlichkeit für eine Diagnose mit der Anzahl der Psychiater. Letzteres ist auch für andere Störungen und die Anzahl der Psychotherapeuten ein bekannter Befund.

Das kann man jetzt positiv oder negativ sehen: Sind die Kinder von Eltern ohne deutsche Staatsangehörigkeit unterdiagnostiziert oder ist der Nachwuchs von Eltern mit deutschem Pass überdiagnostiziert?

Tolerieren Erstere vielleicht größere Unterschiede bei der Aufmerksamkeit oder Impulsivität ihrer Kinder als Letztere? Unterscheiden sich die Kulturen in der Bereitschaft, bei Erziehungsproblemen zum Psychiater zu gehen? Oder erwarten die Eltern mit deutscher Staatsangehörigkeit von ihrem Nachwuchs mehr Aufmerksamkeit und Selbstkontrolle, insbesondere im schulischen Umfeld?

Man müsste wissen, wie häufig ADHS wirklich vorkommt. Wie ich erst kürzlich schrieb, schätzen unterschiedliche Studien die Prävalenz auf 2 Prozent bis 18 Prozent, unterscheiden sich also um den Faktor neun! Wir haben oben gesehen, wie vage die Kriterien für ADHS sind. Es gibt unter Forschern schlicht keinen eindeutigen oder objektiven Maßstab hierfür. Zudem ändern sich die Kriterien im Laufe der Zeit.

Die hier beschriebenen Unterschiede haben wohl eher nichts mit den Genen oder Gehirnen der Kinder zu tun. Andernfalls hätten übrigens deutsche Staatsbürger mehr Gen- oder Gehirnprobleme als Zuwanderer, hätten sie eher einen "Hirnschaden". Das vorliegende Bild lässt sich stattdessen soziokulturell verstehen.

Übrigens kann es auch zwischen Städten innerhalb eines Bundeslands erhebliche Abweichungen geben: Im Gesundheitsatlas Bayern für 2019 kann man beispielsweise vergleichen, dass in Würzburg rund 8.900 Personen pro 100.000 gesetzlich Versicherten wegen ADHS behandelt wurden; in München waren es mit rund 4.300 weniger als die Hälfte. (Dank an den Medizinblogger Joseph Kuhn für den Hinweis.)

Ost und West

In der Häufigkeit der Diagnosen zeigt sich zwischen den alten und neuen Bundesländern zwar kein deutlicher Unterschied. Zum Beispiel ist die Prävalenz von ADHS in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin-Brandenburg eher niedrig (3,7 Prozent), in Thüringen eher hoch (5,0 Prozent). Ärztinnen und Ärzte in Ost und West verschreiben aber unterschiedliche Medikamente.

Ein drittes und letztes Mal beziehe ich mich auf den Versorgungsatlas, jetzt einen Bericht aus dem Jahr 2019. Dieser untersuchte Trends bei den Medikamentenverschreibungen gegen ADHS. Insgesamt griff man bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 5 bis 14 Jahren seit 2010 übrigens seltener zum Rezeptblock. Bis 2016 sank die Verschreibungsrate von rund 50 Prozent auf 45 Prozent.

Das heißt, dass die Mehrheit der Kinder nach einer ADHS-Diagnose keine Medikamente mehr bekam. Übrigens ging es um mindestens eine Verschreibung im Jahr. Die Zahlen bedeuten also nicht, dass 45 Prozent bis 50 Prozent der diagnostizierten Kinder die Mittel durchgängig nahmen.

Im Vergleich zwischen Ost- und Westdeutschland fällt aber auf, dass in den neuen Bundesländern ein Medikament, das auf den Botenstoff Noradrenalin im Gehirn wirkt, häufiger verschrieben wurde als in den Alten. Bei Medikamenten mit dem alten Bekannten Methylphenidat (der Wirkstoff in u.a. Ritalin), die im Wesentlichen auf Dopamin Einfluss haben, war das Bild umgedreht: West häufiger als Ost.

Ist ADHS in den alten Bundesländern also häufiger ein Dopamin-Problem, in den Neuen aber öfter ein Noradrenalin-Problem? Das kann man so pauschal natürlich nicht sagen. Diese Unterschiede in der Behandlung machen aber deutlich, dass, wie eingangs erwähnt, die Gehirnmodelle psychischer Störungen hypothetischer Natur sind.

Das Noradrenalin-Medikament galt vorher übrigens als vielversprechender Kandidat gegen Depressionen. Methylphenidat wird wiederum von Ärzten nicht nur gegen ADHS, sondern, außer der Reihe, schon mal gegen Bipolare Störungen oder Depressionen verschrieben. Tja, das ist doch irgendwie alles komplex im Gehirn.

Fazit

Ich wollte hier zeigen, dass man es im Bereich der psychischen Störungen mit dem Reich der Normen zu tun hat, nicht der Sphäre der Natur. Natürlich unterliegen unseren psychischen Vorgängen körperliche Prozesse; wir sind Körperwesen. Der wesentliche Punkt ist hier aber, dass die Entscheidung darüber, was eine Störung ist, auf sozialen Konventionen (vor allem der Psychiater und ihrer Organisationen) beruht.

Beispielsweise finden in ihrem Gehirn beim Lesen dieses Artikels bestimmte Hirnprozesse statt, insbesondere im Temporallappen der Großhirnrinde (Leseverständnis). Während ich diesen schreibe, dürfte die Aktivierung im Frontallappen höher sein (Sprachproduktion). Dass sich Ihr und mein Gehirn auf diese Weise unterscheidet, bedeutet aber nicht, dass jemand von uns eine psychische Störung hätte.

Der Ansatz, den ich hier vorgestellt habe und der auf so gut wie alle anderen psychischen Störungen übertragbar ist, verteufelt weder die Diagnosen noch die Therapien; er macht schlicht deutlich, dass hier mehrere Faktoren zusammenkommen: das Individuum, mit seinen individuellen Veranlagungen, Fähigkeiten und Einschränkungen; menschliche Beziehungen, beispielsweise der Familie; soziale Umgebungen, beispielsweise der Schule; und schließlich gesellschaftliche Institutionen, wie Psychologen und die Ärzteschaft. Bei alldem spielen gesellschaftliche Normen eine Rolle.

Wenn man so über psychische Störungen denkt, also das biopsychosoziale Modell vertritt, hat man die meisten Optionen: Man kann das Problem individuell, biologisch, psychologisch oder soziologisch untersuchen; man kann es auch auf allen Ebenen behandeln. Ich lehne die Medikamente also nicht generell ab; in vielen Fällen würde ich es aber für ehrlicher halten, von instrumentellem Substanzkonsum statt der Behandlung mysteriöser Gehirnstörungen zu sprechen (Gehirndoping und Neuroenhancement: Fakten und Mythen).

Psychologisch-psychiatrische Diagnosen können helfen, sie können Menschen aber auch ausgrenzen und stigmatisieren. Es ist an der Zeit, wieder mehr über Alternativen nachzudenken. Nicht zuletzt die Anforderungen der Coronapandemie verdeutlichen, dass psychische Probleme oft Reaktionen auf gesellschaftliche Vorgänge sind. Und Alternativen gibt es (Nein, Ihr Kind ist nicht krank!).

In meinem vorherigen Artikel über ADHS analysierte ich eine Sendung von Psychologeek zum Thema. Meiner Analyse zufolge stellt die Psychologin Pia Kabitzsch für "funk", das Content-Netzwerk von ARD und ZDF, die Störung darin einseitig, verzerrt und in Teilen sachlich falsch dar.

Am 26. August wies ich die Redaktionen vom SWR und von "funk" per E-Mail darauf hin. Am 31. August schickte ich eine Erinnerung und bat um eine Stellungnahme für meine Leserinnen und Leser. Bis heute: keine Antwort.

Hinweis: Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.