L'État, c'est moi
Ägypten: Proteste gegen Präsident Mursi und die Frage nach dem Machtanspruch der Muslimbrüder
Mit seinen jüngsten Dekreten (Mursi und die Augen der Freiheit) bündelt Mohamed Morsi die Staatsgewalt in Präsidentenhand. Damit verschärft sich der Machtkampf zwischen den Institutionen des alten Regimes und den Muslimbrüdern. Die liberalen und linken Bevölkerungskreise drohen dabei zwischen den Fronten zerrieben zu werden.
Selten gelingt Politikern ein außen- und innenpolitischer Doppelschlag. Mohamed Morsi versuchte sich am vergangenen Donnerstag daran. In den internationalen Medien wurde er noch als pragmatischer Verhandlungsführer zwischen Israel und der Hamas dargestellt, als er zu einem präsidialen Paukenschlag in Ägypten ansetzte.
Per Dekret erklärte Morsi, dass keines seiner bisherigen und zukünftigen Dekrete mehr juristisch angefochten werden kann. Außerdem erklärte er die von Islamisten dominierte verfassungsgebende Versammlung und das ebenfalls islamistisch besetzte Oberhaus als immun gegenüber möglichen Auflösungsurteilen eines Gerichts. Darüberhinaus verfügte er, dass Generalstaatsanwalt Abdel Meguid Mahmoud seinen Posten nun endgültig räumen muss, nachdem dieser sich einen Monat zuvor dieser Entscheidung noch widersetzte.
Sein Schritt bedeutet eine handstreichartige Entmachtung der Justiz und eine Bündelung der Staatsgewalten in der Hand des Präsidenten.Bis zum Erlassen einer neuen Verfassung und den Parlamentswahlen, die frühestens im kommenden Frühjahr stattfinden, soll dies nach Morsi so bleiben.
Attacken auf Demonstranten gegen Morsi mit Waffen, die aus den Depots der Sicherheitskräftekommen
Die Reaktionen der Gegner des Präsidenten ließen nicht lange auf sich warten. Noch am selben Tag wurden die Büros der Muslimbrüder in Alexandria, Port Said und der Provinz Al-Ibrahimeya angezündet. Linke und liberale politische Parteien riefen für den Folgetag zu einer Großkundgebung auf dem Tahrir-Platz auf. Die Stimmung war angespannt. Wut, Frustration und die Erwartung einer Eskalation lagen in der Luft.
Unter den revolutionären Jugendgruppen war die Stimmung ohnehin bereits auf dem Siedepunkt. Sie gedenken seit vergangenem Montag der Straßenkämpfe mit den Sicherheitskräften vor einem Jahr, denen 46 junge Menschen zum Opfer fielen. Dabei kam es zu erneuten Kämpfen mit den Sicherheitskräften, denen am Dienstag einer der Demonstranten zum Opfer fiel.
Die äyptische Justiz reagierte am Samstag mit einer Notversammlung im Gebäude des höchsten Gerichts auf ihre Entmachtung. Während der Versammlung kam es vor dem Gebäude zu Zusammenstößen zwischen Unterstützern der Justiz und Anhängern der Muslimbrüder. Dabei warfen Unterstützer Morsis Tränengasgranaten auf die Demonstranten, welche die Justiz unterstützten. Zum ersten Mal werden damit Demonstranten gegen Morsi mit Waffen attackiert, die aus den Depots der Sicherheitskräfte kommen. Dies erinnert an die Attacken der sogenannten Baltageyas - bewaffneter Schläger im Sold der Sicherheitskräfte - während der Übergangsphase der Militärherrschaft.
Auch die Justiz ist gespalten
Die Justiz ist zwar immer noch mehrheitlich von Beamten des alten Regimes besetzt, jedoch mittlerweile auch von Spaltungen durchzogen.So verurteilen beispielsweise die Richter der Vereinigung "Richter für Ägypten" die etablierte Richtervereinigung "Club der Richter" als Lakaien des alten Regimes.
Die "Bewegung Unabhängige Justiz", welche sich 2005 aus Protest gegen massive Wahlfälschung zugunsten des Ex-Präsidenten Mubarak formte, erklärte hingegen:"
Morsis Entscheidung ist eine ungerechtfertigte Aktion, welche die Unabhängigkeit der Justiz massiv beschneidet.
Auch wenn Morsi mit seinen Entscheidungen einen Teil weit verbreiteter Forderungen erfülle, wie jener nach Strafverfolgung von Mitgliedern des alten Sicherheitsapparats, gefährde dieser Schritt doch Demokratie und Freiheit in Ägypten.
Eine Reihe von Parteien aus dem linken und liberalen Spektrum schloß sich am Samstag zu einer "nationalen Front" zusammen, um Morsi zur Rücknahme der Verfassungserklärung zu zwingen. Unter den Teilnehmern waren die Ex-Präsidentschaftskandidaten Hamdeen Sabbahi, Amr Moussa und der Gründer der liberalen " Verfassungspartei", Mohamed Al Baradei. Die Gruppe kündigte an, in keinen Dialog mit Morsi zu treten, bis jener die kontroversen Dekrete zurückgenommen habe.
Wir werden keinem Dialog zustimmen, solange diese Verfassungsänderung inkraft bleibt.
Amr Moussa
Der Ex-Muslimbruder Abdul Moneim Aboul Fotouh, der als Präsidentschaftkandidat in der ersten Wahlrunde mit 18% der Stimmen den 4. Platz belegte und im September die Partei "Starkes Ägypten" gründete, ließ nur Vertreter kommen. Er schließt eine Kooperation mit Offziellen des alten Regimes kategorisch aus, weshalb ihm die Teilnahme von Ex-Außenminister und Arabischer-Liga-Vorsitzenden Amr Moussa ein Dorn im Auge ist.
An dieser Stelle tritt die Bruchlinie zwischen Gegnern des alten Regimes und jenen, die sich in ihm arrangiert hatten, nochmal zutage. An anderer Stelle ist diese Spaltung mittlerweile von der Furcht vor der wachsenden Dominanz der Muslimbrüder überlagert. So demonstrierten am Samstag auch Mitglieder der liberalen Verfassungspartei von Mohamed Al Baradei Seite an Seite mit jenen Richtern, welche die Justiz des alten Regimes verkörpern, gegen Morsis Entscheidung.
Eine entscheidende Phase für den Weg des Landes
Mohamed Morsi selbst schlug nach seiner Entscheidung in einer Rede am Freitag einen versöhnlichen Tonfall an. Er erklärte einmal mehr, dass er der Präsident aller Ägypter sei. Seine Entscheidungen sollten keine politische Strömung in Ägypten begünstigen oder benachteiligen. Auch sei die Machtkonzentration in seiner Hand nur eine vorübergehende Maßnahme bis zur Vollendung der neuen Verfassung und den nächsten Parlamentswahlen.
Doch diese Phase kann in vielerlei Hinsicht weichenstellend für den Weg sein, welchen das Land in den nächsten Jahren einschlägt. Die verfassungsgebende Versammlung ist mittlerweile noch stärker als zuvor von Islamisten dominiert, nachdem aus Protest gegen diese Dominanz immer mehr säkulare Teilnehmer die Verfassung in den letzten Monaten verlassen haben. Mitte November hatte auch die Delegation der christlichen Teilnehmer die Zusammenarbeit aufgekündigt.
Die Säkularen und Christen hatten mit ihrem Schritt gehofft, juristische Schritte gegen die Versammlung auslösen zu können, wie einen Auflösungsbescheid der Gerichte und eine darauf folgende Neuzusammensetzung. Doch mit Morsis Dekret von Donnerstag ist die Versammlung gegen jegliche Auflösungsklagen der Gerichte immun.
Die Vertrauenskrise der Muslimbrüder
Teil von Morsis Bündel an Dekreten war auch ein sogenanntes "Gesetz zum Schutz der Revolution". Dieses fordert die Justiz zur unmittelbaren Aufnahme von Strafprozessen gegen die Mitglieder des Sicherheitsapparates auf, welche für Gewalt gegen Demonstranten während der Tage des Umsturzes verantwortlich sind. Damit geht er auf eine zentrale Forderung der revolutionären Jugendgruppen ein.
Dass Mohamed Morsi damit das Vertrauen der am Umsturz beteiligten Jugend gewinnen kann, ist jedoch mehr als unwahrscheinlich. Kaum jemand aus den Jugendbewegungen hält die Muslimbrüder noch für einen glaubwürdigen Akteur, der für den freiheitlichen Wandel im Sinne der Umsturztage steht. Mohamed, Demonstrant auf dem Tahrir-Platz, sagte gegeenüber Telepolis dazu:
Vielleicht sind sie keine Kopie des alten Regimes. Doch sie werden versuchen, Schritt für Schritt immer mehr Macht an sich zu reißen.
Auch in der Tatsache, dass Morsi sich in seiner Rhetorik als "Präsident der Revolution bezeichnet" sehen viele eine rein taktische Maßnahme. "Nachdem die Muslimbrüder aus taktischen Gründen die Marke der Revolution für sich übernommen haben, können sie jeden, der ihre Politik ablehnt, als Feind der Revolution darstellen", sagt der Autor Rawah Badrawi dazu.
Der apolitische Teil der Bevölkerung
In diesem Klima der zunehmenden Polarisierung zwischen Muslimbrüdern und Säkularen fällt wenig Blick auf jene Teile der Bevölkerung, die keine klare Stellung beziehen. Als während des Sturzes Mubaraks Hunderttausende auf den Straßen waren, wurden auch viele eher apolitische Menschen von der erst angespannten und später euphorischen Stimmung angesteckt.
Doch 30 Jahre Mubarak-Herrschaft haben nicht nur zum Niedergang des Bildungssystems und zu steigender Armut geführt. Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung wurde nachhaltig de-politisiert. Die unruhigen, wirtschaftlich betrüblichen Monate nach der Revolution trugen ihren Teil dazu bei, dass sich ein großer Teil der Bevölkerung nun vor allem nach einer Erholung der maroden Wirtschaft sehnt.
Spricht man dieser Tage in der äyptischen Haupsstadt mit Menschen über den aktuellen Machtkampf, wird klar, dass für viele die Auseinandersetzungen zwischen Muslimbrüdern und Liberalen nicht ihren persönlichen Sorgen entsprechen. Ein großer Teil der Bevölkerung erhoffte sich von der Revolution eine Verbesserung der persönlichen Lebensumstände, mehr Chancen und vor allem Arbeit. Davon hat sich bisher kaum etwas materialisiert. Diese anhaltende Frustration könnte sich mittelfristig wieder Bahn brechen, doch kurzfristig dürfte das Bedürfnis nach Stabilität dem Mann im Amt zu Gute kommen.
Mohamed Morsi weiß mit seiner Rhetorik von Einheit und Zusammenhalt dieses Bedürfnis für sich und seine Muslimbrüder zu nutzen. Andere Mitglieder der Bruderschaft setzen auf die tief verwurzelte Konservativität in weiten Teilen der Gesellschaft, wenn sie Mitglieder der Jugendgruppen als beleidigend und obszön bezeichnen. Damit können sie sich der Zustimmung großer Bevölkerungskreise sicher sein.
Ob ein ebenso großer Teil der Bevölkerung allerdings die islamistische Agenda der Muslimbrüder mitträgt, ist eine noch offene Frage, die sich nicht kurzfristig beantworten lassen wird.
Der lange Marsch durch die Institutionen
Denn der Prozess der Islamisierung ist vielerorten ein schleichender, dessen Auswirkungen für einen Großteil der Bevölkerung noch nicht erkennbar sind.
Seit dem Amtsantritt Morsis häuften sich beispielsweise Klagen wegen Delikten wie "Gotteslästerung" in denen vor allem Christen von lokalen Gerichten häufiger als zu Mubarak-Zeiten zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt wurden. Mitte November wurde von konservativen Anwälten eine Anklage gegen die Schauspielerin Elman Shaheen wegen "Szenen inakzeptabler Obszönität" in ihren Filmen in einem Kairor Gericht eingereicht. Nachdem das Gericht sich zunächst für nicht zuständig erklärte, wurde das Verfahren eine Woche später doch aufgenommen.
An der Universität in Alexandria veranstaltete die Jugend der Muslimbrüder eine "Keuschheitskampagne". Kern der Kampagne ist das seit einigen Wochen diskutierte Verbot von Pornographie. Darüberhinaus werden die Studenten dazu aufgefordert "dem anderen Geschlecht keine Beachtung zu schenken und keine Sünden zu begehen, die zur Zerstörung der Gesellschaft beitragen könnten".
Kürzlich berichtete außerdem die ägyptische Tageszeitung Al Masri al Youm, dass Mitglieder der "Partei für Freiheit und Gerechtigkeit", des politischen Arms der Muslimbrüder, im Februar bei der Polizeiakademie einen Antrag auf einen Intensivkurs für junge Jura-Absolventen gestellt haben, die der Partei nahestehen. Die Führung der Akademie wie auch die Führung der Partei der Muslimbrüder dementierten diesen Umstand später. Es scheint jedoch nicht unwahrscheinlich, dass in der Kalkulation der Chefplaner unter den Muslimbrüdern neben der Justiz die Institutionen von Armee und Polizei die Einrichtungen sind, die dem eigenen Machtausbau im Wege stehen könnten.
Linke und liberale Parteien warten in der aufgeheizten aktuellen Stimmung nicht bis zum nächsten Freitag, dem traditionellen Protesttag, mit ihrem nächsten Aufruf zur nächsten Demonstration. Die nächste landesweite Großkundgebung ist für Dienstag angesetzt. Der offizielle Aufruf von Al Baradei's Verfassungspartei dazu lautet:
Wir befinden uns an dem historischen Moment, in dem wir die Ziele der Revolution entweder vollenden, oder zur Beute einer Bewegung werden, die ihre eigenen engstirnigen Interessen über das Wohl des Landes stellt.