Lasst uns Putin die Soldaten nehmen!

Seite 2: Wie eingreifen, ohne einen Weltkrieg zu riskieren?

Wie also können wir das schaffen – ohne einen dritten Weltkrieg zu riskieren? Aus meiner Sicht gehören auch Waffenlieferungen und Sanktionen zur Antwort, aber sei es drum: Gerade wer diese Optionen ablehnt, sollte den Vorschlag, den russischen Soldaten eine Brücke in die EU zu bauen, als vollkommen gewaltlose Alternative begrüßen.

Dieser Vorschlag folgt dem Ansatz der zivilen statt militärischen Verteidigung, wie er seit Jahrzehnten von der Friedensbewegung vertreten wird.

Ebenso wichtig freilich: Er vermeidet es, zivile Verteidigung aktuell nur von der Ukraine zu verlangen. Die Forderung so mancher und manches Friedensbewegten nicht nur in meinem Umfeld, die Ukraine möge einfach kapitulieren, um sich anschließend irgendwie zivil zu verteidigen, mag trotz ihrer Vagheit erwägenswert sein.

Doch anderen Ratschläge zu geben, ohne die eigene Verantwortung zu reflektieren und wahrzunehmen, ist billig – und im vorliegenden Fall sicher auch oft sehr naiv: als ob Putins Regiment eine Art blühender Zivilgesellschaft erlaubte. Ein Terrorregime mit stalinistischen Säuberungen könnte es ebenso werden.

Zudem stünde sein Militär womöglich längst schon in Polen oder im Baltikum. Eine Kapitulation der Ukraine hätte den Krieg dann nur verlagert bzw. für seine Ausdehnung gesorgt, statt ihn zu beenden.

Es ist insofern richtig, dass die Ukraine auch unsere Unabhängigkeit und demokratische Ordnung verteidigt, doch eben deshalb wäre es auch wiederum billig, sie vom hiesigen Schreibtisch aus zum Durchhalten aufzufordern, ohne zugleich die eigenen Möglichkeiten in den Blick zu nehmen.

3. Ein Stein des Anstoßes mag für manche der Aufruf zur Desertion sein, insofern diese – im Gegensatz zur Kriegsdienstverweigerung – häufig mit dem Im-Stich-lassen von Kameraden assoziiert wird. Auch hier sollte man jedoch wieder nach Ursache und Wirkung fragen und bereit sein, die Ursache – Putins Aggression – nicht einfach als gesetztes Datum zu akzeptieren.

Zudem werden Deserteure natürlich in jedem Land bestraft, doch folgt daraus nicht, wie zwei meiner Bekannten befürchteten, dass in Deutschland Probleme bekommt, wer einen Aufruf an die eigene Regierung unterstützt, diese möge ihrerseits jene zur Desertion aufrufen, die an einem Angriffskrieg mitwirken sollen, welcher vom Internationalen Gerichtshof bereits verurteilt wurde.

Mögliche repressive Reaktion

Andererseits ist der Aufruf zur Desertion auch gar nicht das Entscheidende, sondern dass den russischen Soldaten eine Brücke in die EU gebaut und bekannt gemacht wird, so dass sie darüber gehen können, wenn sie dies wollen.

4. Was das Bekanntmachen der Brücke bei den russischen Soldaten angeht, gibt es angesichts der russischen Medienüberwachung sicher eine Reihe praktischer Hürden, doch dürften diese letztlich nicht unüberwindlich sein.

5. Ähnliches gilt nach meiner Einschätzung auch mit Blick auf mögliche repressive Reaktionen und Disziplinarmaßnahmen Putins. Die Soldaten sind ohnehin im Krieg und müssen also mit dem Tod rechnen. Die Frage ist nur, ob sie in dieser Situation gegebenenfalls über eine Brücke in die EU entfliehen können. Um ihre Familien in Russland zu schützen, ist es aber sicher nötig, auch diesen den Weg darüber zu garantieren.

6. Gleichzeitig freilich würden die Soldaten in der Regel – außer wenn sie sich direkt über eine Grenze zur EU absetzen – erst einmal zu Kriegsgefangenen der Ukraine, die dann an die Genfer Konvention gebunden ist. Angesichts der eingangs erwähnten Lockangebote des ukrainischen Verteidigungsministers sollte es aber kein Problem sein, als EU eine entsprechende politische Vereinbarung mit der Ukraine zu treffen.

7. Zu berücksichtigen ist freilich auch, dass Soldaten, die an Kriegsverbrechen beteiligt waren, keinen Flüchtlingsstatus genießen und auch in Deutschland strafrechtlich verfolgt werden können. Dies ist sicherlich ernstzunehmen, und zwar umso mehr, je länger der Krieg schon andauert, aber auch angesichts dessen, dass Gerichte heute zunehmend weniger bereit sind, etwa ehemalige KZ-Bedienstete mit Hinweis auf einen allgemeinen "Befehlsnotstand" für unschuldig zu erklären.

Dennoch scheint es mir unrealistisch, dass alle russischen Soldaten, die nicht sofort desertiert sind, wegen Teilnahme an einem völkerrechtswidrigen Angriffs- und Eroberungskrieg als Kriegsverbrecher zu gelten hätten. Zumal wenn dies dazu führte, dass der hier verteidigte Ansatz dadurch vereitelt würde. Schließlich ist das Völkerrecht, wie der Internationale Gerichtshof in seinem Urteil gegen Russland betont hat, gemäß Artikel 1 der Charta der Vereinten Nationen insgesamt dem Frieden verpflichtet. Und dem Frieden diente es sicher, wenn die Soldaten des Aggressors das Schlachtfeld verließen.

8. Bleibt die Frage der Naivität. Wer traut sich zu, sie zu beantworten?