Lasst uns Putin die Soldaten nehmen!

Deutschland und die EU hätten russischen Soldaten im Ukraine-Krieg längst eine Brücke in die EU bauen sollen – mit dem Angebot eines dauerhaften Bleiberechts, auch für ihre Familien

Als sich in den ersten Märztagen, wenige Tage nach Wladimir Putins Invasion in die Ukraine, ein russischer 60-Kilometer-Militärkonvoi vor Kiew aufbaute, war in den Nachrichten zu hören, die Ukraine habe die russischen Soldaten aufgefordert, nicht gegen sie zu kämpfen.

Gut eine Woche später konnte man sogar lesen, der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow verspreche jedem russischen Deserteur vollständige Straffreiheit und umgerechnet rund 40.000 Euro.

Zerstörung im Ukraine-Krieg (14 Bilder)

Zerbombte Trambahn in Charkiw. Bild: Mvs.gov.ua / CC-BY-4.0

Hintergrund waren nicht zuletzt Berichte darüber, dass russische Soldaten oder gar bloße Wehrpflichtige ohne ihr Wissen in den aktuellen Krieg geschickt worden und einige von ihnen denn auch bereits desertiert waren.

Mich hatte bereits die erste Meldung elektrisiert. Kein Kriegsherr kann schließlich alleine Eroberungskriege führen. Er (oder sie) braucht dazu Soldat:innen, die verbrecherische Befehle auch ausführen und sich dadurch zum Werkzeug der Herrschenden machen. Wenn sie sich verweigern, fällt der Krieg einfach aus.

Und offenbar ist das auch ein Grund, warum der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko Putin lediglich sein Territorium zur Verfügung stellt, nicht aber Truppen.

Wie wäre es also, so dachte ich damals spontan, wenn Deutschland und die EU insgesamt laut vernehmbar alle russischen Soldaten in der Ukraine zu desertieren aufforderten und ihnen zugleich ein dauerhaftes Bleiberecht in der EU anböten, am besten gemeinsam mit ihren Familien?

Auch andere dachten offenbar in diese Richtung, zumindest in dem Sinn, dass desertierenden russischen Soldaten individuelles Asyl ermöglicht werden sollte: Entsprechende Forderungen kamen von einzelnen Politiker:innen der Parteien Die Linke, Bündnis 90/Die Grünen und der FDP.

Doch sie haben keine größere Unterstützung erhalten; genau wie eine Petition, die der Autor dieses Beitrags schließlich gestartet hat. Speziell der Vorstoß von MdB Johannes Vogel (FDP) wurde auch von Telepolis-Chefredakteur Harald Neuber kritisiert.

Hält die Idee, dem Aggressor seine Soldaten abspenstig zu machen, dem zweiten Blick also doch nicht stand? Ist sie vielleicht schlicht inpraktikabel oder naiv? Oder rechtlich unmöglich? Oder löste ihre Umsetzung eine noch schlimmere Dynamik aus?

Und was ist mit den ukrainischen Soldaten?

Tatsächlich sollte man all dies gut durchdenken. Deshalb schauen wir uns die verschiedenen Aspekte etwas genauer an, einschließlich einiger grundsätzlicher Kritikpunkte.

1. In meinem Bekanntenkreis wurde teilweise ins Feld geführt, dass Deutschland ohnehin schon genug Menschen aufnehme oder dass diese Überlegung für viele sicher ausschlaggebend dafür sei, die Forderung nicht zu unterstützen. Die Wahrheit ist freilich, dass die Zahl der russischen Soldaten, um die es maximal ginge, plus deren Familienangehörige deutlich geringer ist als die der ukrainischen Flüchtlinge, die bisher schon in die EU gekommen sind und weiter kommen werden.

Dabei ist es natürlich unbedingt notwendig, die ukrainischen Kriegsflüchtlinge aufzunehmen. Doch wenn stattdessen Putin die Soldaten abhandenkämen und dies zum Ende des Krieges beitrüge, wäre das auch aus deren Sicht die noch bessere Lösung.

Zugleich mag die Furcht vor russischen Agenten oder dergleichen berechtigt sein. Die Gefahr, dass solche gemeinsam mit desertierenden russischen Soldaten ins Land kämen, dürfte aber kaum größer sein als die, dass sie gemeinsam mit ukrainischen Flüchtlingen bereits jetzt schon getan haben.

2. Manche derer, die ich bisher als meine politischen Mitstreiter:innen betrachtet habe, beantworteten meinen Vorschlag mit Kritik an dessen Einseitigkeit: Warum würden nicht auch die ukrainischen Soldaten zur Desertion aufgefordert, zumal angesichts des Ausreiseverbots für Männer zwischen 18 und 60 und da es in der Ukraine kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung gebe? Auch im erwähnten Artikel Harald Neubers stehen diese Menschenrechtsaspekte im Mittelpunkt.

Nun, die Antwort ist einfach: Es geht hier darum, dem Aggressor in den Arm zu fallen, auf vollkommen gewaltlose Weise, aber in tätiger Solidarität mit der angegriffenen Ukraine. Je erfolgreicher das wäre, desto weniger bräuchten ukrainische Männer und Frauen überhaupt zu kämpfen, und desto mehr erübrigte sich auch das Ausreiseverbot. Die Einseitigkeit des Vorschlags spiegelt also die Asymmetrie von Ursache und Wirkung wider.

Dass Kriegsdienstverweigerung ein Menschenrecht ist, das in der Ukraine bisher nicht gewährleistet war – ich habe diese Behauptung nicht überprüft –, steht zugleich auf einem anderen Blatt.

Ein wichtiges Thema sicher. Aber eben ein anderes. Es sollte nicht als Vorwand dafür genommen werden, der Frage aus dem Weg zu gehen, wie wir in Deutschland und der EU der überfallenen Ukraine beistehen können.