"Lawrows Posten ist aktuell wie ein Erschießungskommando"

Mit Russlands Außenminister Sergej Lawrow wollen momentan nicht viele tauschen. Foto: Pressedienst des Präsidenten der Russischen Föderation / CC-BY 4.0

Wie sich die russische Außenpolitik radikalisierte. Ein Gespräch mit Alfred Koch, Ökonom und früherer stellvertretender Ministerpräsident Russlands

Noch vor wenigen Jahren hüteten sich Russlands Außenminister Sergej Lawrow und andere Vertreter der Staatsspitze vor zu radikalen Aussagen gegen den Westen und seine Verbündeten, obwohl das Verhältnis durch die Rivalität um Einfluss in Osteuropa und die Nato-Osterweiterung schon lange angespannt ist. Kritik blieb sachlich und unemotional - nicht selten wurde sie sogar in Form humorvoller Spitzen vorgetragen.

Das hat sich bereits im Vorfeld der russischen Invasion der Ukraine gewandelt. In der Führung ist nach und nach eine in der nachsowjetischen Geschichte beispiellose, auch verbale Radikalisierung eingetreten. Woran liegt das und wie ist der innere Zustand von Russland und seiner Staatsführung?

Telepolis sprach darüber mit dem russlanddeutschen Ökonomen und Politiker Alfred Koch. Er war stellvertretender Ministerpräsident Russlands unter Boris Jelzin und bis 2001 Chef der regierungsnahen Medienholding Gazprom-Media. In den letzten zehn Jahren galt er zunehmend als scharfer Kritiker der russischen Außenpolitik und lebt seit 2013 in Deutschland.

"Extreme Aussagen kommen von denen, die im Chor mitsingen"

In jüngster Zeit, vor allem seit Kriegsbeginn, beobachten wir eine Verschärfung der Rhetorik der russischen Führung. Was ist mit Leuten dort passiert, die vor 20 Jahren noch zurückhaltend erschienen?
Alfred Koch: Extreme Aussagen kommen immer noch nicht von denen, die an der Spitze der Elite stehen, sondern von denen, die sozusagen im Chor mitsingen, etwa als irgendein Vizesprecher der Staatsduma wie Pjotr Tolstoi. (Anm. der Redaktion: Dieser sprach im Januar davon, dass Russland innerhalb der Grenzen des Zarenreichs hergestellt werden sollte inklusive Finnland und den baltischen Staaten). Die Machthaber selbst geben solche Erklärungen nicht ab, sie schaffen aber die für sie passende Atmosphäre.
Was ist mit der jüngsten Erklärung Lawrow, Hitler habe jüdische Wurzeln? War das eine Aussage mit Hintergedanken oder nur ein Fehler?
Alfred Koch: Wer genau sagt, Lawrow sei schlau? Das ist ein Mythos. Das Schlimmste an seiner Aussage war nicht, dass Hitler angeblich jüdische Wurzeln habe, sondern dass sie suggerierte, dass die Juden am Holocaust schuld seien.
Hier hat er einfach etwas Dummes gesagt, ohne über Konsequenzen nachzudenken. Aber er bleibt auf seinem Posten, wird für solche Dinge nicht einmal gerügt. Lawrows Posten ist aktuell wie ein Erschießungskommando. Ich glaube nicht, dass viele momentan seinen Posten wollen und Putin hier eine große Auswahl an Ersatz hätte.
Es gibt ein Gerücht, dass Lawrow das absichtlich gesagt hat, damit er vom Posten des Außenministers entbunden wird.
Alfred Koch: Das bezweifle ich. Putin hat sich einfach in Israel für ihn entschuldigt und ihn auch nicht gefeuert.
Sie bekleideten einst wichtige Posten in der Regierung, waren stellvertretender Ministerpräsident, leiteten Gazprom-Media. Wie haben Sie Putin damals gesehen – hätten Sie sich damals vorstellen können, was 20 Jahre später aus ihm werden würde?

Alfred Koch: Ich bin vor 25 Jahren aus dem Staatsdienst ausgeschieden. Seitdem hat sich viel verändert, auch Putin selbst. Ich konnte damals tatsächlich nicht ahnen, was später aus ihm werden würde. Ich habe ihn aber auch nur einmal und das nur für 30 Minuten persönlich getroffen.

"Kollektive Verantwortung ist Unfug"

Vor dem Hintergrund des russischen Krieges gegen die Ukraine, den Putin entfesselt hat, machen sich viele Russen Sorgen um den Begriff der "kollektiven Verantwortung". Wie formulieren Sie eine solche für sich selbst? Fühlen Sie sich für die Geschehnisse in der Ukraine mitverantwortlich?
Alfred Koch: Ich weiß nicht, was kollektive Verantwortung sein soll. Ich habe sie bei den Deutschen nie verstanden und verstehe sie jetzt nicht bei den Russen. Nach meiner Auffassung gibt es seit der Zeit des römischen Rechts nur individuelle Verantwortung – kollektive Verantwortung ist Unfug. Danach wären sogar diejenigen, die gegen das Putin-Regime gekämpft haben für den Krieg in der Ukraine verantwortlich.
Warum das auf alle verteilen? Jeder muss über sein Gefühl der Schuld und Verantwortung selbst entscheiden. Alles andere ist leeres, humanistisches Geschwätz, bei dem ich nicht weiß, was ich dazu sagen soll. Wie soll ich verstehen, dass Kleinkinder oder Alte kollektiv verantwortlich gemacht werden sollen?
Die Schuldigen sitzen im Kreml, im Verteidigungsministerium, in den Geheimdiensten, unter den Propagandisten. Sie sollten auf die Anklagebank und ins Gefängnis. Das russische Strafgesetzbuch enthält dafür alle nötigen Paragraphen: "Aufstachelung zum Krieg", "Kriegspropaganda" und andere, die für die Gerichte ausreichen.
Sind Politiker wie Gerhard Schröder oder Silvio Berlusconi mitverantwortlich, die mit Putin in enger Beziehung standen?
Alfred Koch: Fügen Sie doch noch Angela Merkel hinzu (lacht). Es gibt im rechtlichen Sinne kein Verbrechen "Flirten mit Putin". Darüber sollten wir nicht reden, bevor wir in Geschwätz abgleiten.
Wie beurteilen Sie dann die Reaktion der heutigen westlichen Politiker, vor allem der deutschen, auf Putins aktuelles Vorgehen?

Alfred Koch: Sie sollten damit beginnen, schwere Waffen zu liefern. Bisher wird viel darüber gesprochen, angekommen ist noch nichts.

Europas Wirtschaft wird "ohne russisches Gas nicht auskommen"

Soll sich die europäische Politik für ein komplettes Energieembargo verhängen?
Alfred Koch: Das ist in den nächsten beiden Jahren noch eine Utopie. Die europäische Wirtschaft, das europäische Gassystem werden ohne russisches Gas nicht auskommen, es gibt keinen echten Ersatz dafür. Es geht hier nicht darum, dass die Europäer mehr für Benzin zahlen oder gar im Winter nicht heizen können.
Das Problem ist, dass Gas nicht nur zum Heizen verwendet wird, sondern auch für die Industrie, vor allem die chemische Industrie. Ein abrupter Stopp der russischen Gaslieferungen würde ganze Industriezweige stilllegen und zu massiver Arbeitslosigkeit führen. Das wäre nicht nur ein Problem des Lebensstandards, sondern eine tiefe Wirtschaftskrise für Deutschland.
Im Prinzip befindet sich Russland nicht nur mit der Ukraine im Krieg, sondern bereits mit der gesamten Nato, die Kiew Waffen liefert und es finanziell unterstützt. Ohne diese Hilfe hätte die Ukraine keinen Monat überlebt. Sogar bei Bidens 40-Milliarden-Dollar-Gesetz für die Ukraine besteht die Hälfte aus Wirtschaftshilfe. Wenn also der ganze Westen gegen Russland kämpft, warum soll er sich da selbst schwächen?
Aber Putin wird Gaseinnahmen ja für die Bewaffnung seiner Armee verwenden?
Alfred Koch: Wissen Sie, wie viel Geld aktuell durch den Export von Energierohstoffen hereinkommt? Nach kürzlich veröffentlichten Statistiken des russischen Wirtschaftsministeriums hat das Land im April diesen Jahres bereits 18 % weniger aus dem Verkauf von Öl und Fas eingenommen, als im Vorjahr. Was ist das Geheimnis der Stabilität der russischen Wirtschaft?
Warum gibt es keine Streiks oder riesige Schlangen vor den Geschäften, die manche zum Kriegsbeginn prognostiziert haben? Das war ja in den 1990er-Jahren anders, als Bergleute massiv streikten. Aber damals war Demokratie. Die Leute wussten, sie können auf die Straße gehen und ihnen wird nichts passieren. Jetzt aber bekommen sie einen Knüppel auf den Kopf oder verlieren ihren Job.
Sind deshalb Massenproteste in Zukunft ausgeschlossen?
Alfred Koch: Sie sind es nach meiner Meinung.
Würden die Menschen auch schweigen, wenn die Nahrung knapp würde?
Alfred Koch: Ja, sie werden selbst dann schweigen. Vielleicht würden sie anfangen, Kartoffeln anzubauen und wieder mehr Gläser mit Gurken und Tomaten einzumachen. Aber nicht zu protestieren.

"Es gibt keinen Aufruhr von innen, keine Verschwörung"

Ist dann der einzige Weg zu einem Sturz Putins eine militärische Niederlage?
Alfred Koch: Ja, das ist offensichtlich. Es gibt keinen Aufruhr von innen, keine Verschwörung. Viele, die eine solche hätten anführen können, sind tot, inhaftiert oder haben das Land verlassen.
Haben sich die Übrigen dann um Putin versammelt?
Alfred Koch: Ja, es haben sich auch Leute um Putin versammelt, die sich auf die Zunge gebissen haben und schweigen. Eine Verschwörung entsteht nur, wenn die Elite leidet, nicht nur das Volk.
Leidet die Elite nicht? Durch gesperrte Konten, fehlende Reisemöglichkeiten ins Ausland?
Alfred Koch: Aber das war der Westen, nicht Putin! Der Westen blockiert Einreisen. Also haben sie sich um Putin versammelt. Diese persönlichen Sanktionen haben Putins Herrschaft nur gefestigt.

"Man begann, den üblichen russischen Krieg zu führen"

Gewinnt die Ukraine den Krieg?
Alfred Koch: Mein Bild ist bisher, dass die Russen vorrücken und die Ukrainer verteidigen. Der Blitzkrieg ist allerdings gescheitert. Man begann, den üblichen russischen Krieg zu führen, mit einer großen Zahl von Opfern, Zerstörung, Terror in besetzten Gebieten. Über einen Fall von Kiew wird nicht mehr gesprochen, anders als in frühen Kriegstagen. Aber es gibt noch keinen Zusammenbruch von Putins Armee.
Das bedeutet, später kann Putin wieder einen Vormarsch auf Kiew befehlen?
Alfred Koch: Ich kenne seine Pläne nicht, er gibt sie nicht bekannt. Grundsätzlich kann er auch ein erreichtes Ergebnis zum Ziel erklären, damit dieses erreicht wurde. So wie er jetzt Krieg führt, kann er Jahre dauern. Ich sehe keine Bereitschaft, das zu stoppen. Bisher deutet alles, was Putin tut und sagt darauf hin, dass er den Krieg fortsetzen wird.
Sie leben seit 2013 in Deutschland und sind nun deutscher Staatsbürger. Was hat Sie dazu gebracht, Russland zu verlassen? War es ein Abschied für immer?
Alfred Koch: Gegen mich wurde damals ein Strafverfahren eröffnet und mir mit Verhaftung gedroht. Ich werde nicht nach Russland zurückkehren, auch nicht, wenn das Putin-Regime fällt. Ich lebe in Deutschland ein normales Leben. Ich schwimme nicht im Geld, habe aber ein normales Leben, mit Freunden wie mit Sorgen. Ich bin jetzt über 60 und werde nicht mehr umziehen. Sollte Russland sich wandeln, werde ich natürlich dort hinreisen und meine Freunde treffen. Aber zum Leben komme ich nicht dorthin zurück.