Leben in Zeiten der Gefahr

A Fragment of Fear

Ein Bingham-Roman und drei Filme mit David Hemmings

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They think I’ve given up. But I haven’t given up. As soon as I can think straight, I’ll draw them out. They’re somewhere.

Fragment of Fear

Ich bin sieben, sagt die Stimme am Telefon, wie die Teufel in der Bibel. Oder siebzehn. Oder siebzig. Oder siebenhundert. Suchen Sie es sich aus. Und Sie, Sie sind nur einer. Also tun Sie, was wir von Ihnen verlangen. Oder besser: Tun Sie nichts mehr, stellen Sie Ihre Nachforschungen ein, lassen Sie die Toten ruhen. - Später kommt ein Brief, auf der Maschine getippt, pedantisch formuliert, besserwisserisch und drohend. In dem Brief wird der Adressat dazu aufgefordert, sich nun endlich so zu verhalten, wie es die geheime Organisation, auf die er bei seinen Recherchen gestoßen ist, von ihm verlangt. Er besitze, steht auf dem Blatt Papier, eine Topfpflanze. Es sei eine rote Pelargonie, auch wenn sie fälschlicherweise meist Geranie genannt werde. Zum Zeichen, dass er nun gewillt sei, auf die Forderungen der Organisation einzugehen, solle er diese Pelargonie ins Fenster stellen. Dann werde seiner Braut nichts passieren.

Das ist eine dieser aberwitzigen Entwicklungen in John Binghams Roman A Fragment of Fear. Was mit Teufeln, Mord und Verschwörung beginnt, mündet plötzlich in Oberlehrergehabe und Spießbürgertum mit Geranie. Was wäre wohl, wenn der Empfänger des Briefes gleich eine ganze Batterie von des Spießers liebster Balkonblume in sein Fenster stellen würde? Dürfte er dann Mitglied im Geheimdienst Ihrer Majestät werden, oder beim KGB? Oder doch nur ein braver Schwiegersohn? Und wo ist eigentlich der Unterschied? Ist die geheime Welt der Verschwörungen und Verbrechen, die wir aus Büchern und aus Filmen kennen, eine ins Melodramatische übersteigerte Version der Wirklichkeit, gar deren Spiegelbild? Und wer ist es, der uns schier in den Wahnsinn treibt? Sind es die Spione und Agenten, oder doch die nervigen Schwiegereltern?

Die Raubtiere sind noch da

Manchmal sind die Romane von John Bingham unheimlich, weil sie bereits auf etwas zu reagieren scheinen, das erst viel später geschah. Es komme ihm fast wie ein Verbrechen vor, schreibt er im Vorwort zu Night’s Black Agent, auch nur einen Teil der Handlung eines Kriminalromans in einem Land spielen zu lassen, das so schön und von so freundlichen Leuten bewohnt sei wie Norwegen. Inzwischen hat die Realität die Fiktion eingeholt. A Fragment of Fear fängt an wie folgt:

Wir leben in einem gefährlichen Zeitalter, und das nicht nur wegen der Wasserstoffbombe und den hohen Steuern. Der Mensch wurde schon immer vom Terror heimgesucht, von solchen Schrecken wie der Pest im Mittelalter, der Invasion der Mongolen, rassischen Verfolgungen oder individueller Habgier; […]. Ich sage jetzt dies: die Gefahren ändern sich in gewissem Maße, aber die Raubtiere sind noch da, sind vielleicht ein bisschen subtiler als in früheren Zeiten, wenn auch grundsätzlich nicht sehr viel.

Der das sagt heißt James Compton, oder im Grunde heißt er anders, denn er wird in der Geschichte, die er uns erzählen will, ein paar unfreundliche Bemerkungen über "meinen Schwachkopf von einem sogenannten Schwiegervater" und "meine grässliche Schwiegermutter" machen, und um sich in seiner schwierigen Lage nicht noch mehr Ärger einzuhandeln, hat er die Namen der handelnden Personen geändert. James’ Braut Juliet und ihre Eltern sind jetzt also die Bristows. Wenn man Alias gesehen hat, die Weltverschwörungs-, Geheimdienst- und Familiensaga von J.J. Abrams, fragt man sich unwillkürlich, ob jemand an das Buch von Bingham dachte, als für die Superagentin Sidney ein Familienname gesucht wurde. Zu der mit vielen Zitaten spielenden Serie würde das gut passen.

Alles, sagt James, begann mit den "Ereignissen dieses schrecklichen Morgens am 11. September. Das will ich hier schriftlich niederlegen, denn selbst jetzt, nachdem eine beträchtliche Zeit vergangen ist, bin ich mir nicht sicher, was die Zukunft für mich bereithält." Allerdings beginnt es nicht in New York und nicht bei den Twin Towers, den Symbolen der westlichen Welt und des Kapitalismus, denn das Buch ist 1965 erschienen, sondern in Italien, in den Ruinen einer untergegangenen Zivilisation. James hatte einen Autounfall. Um sich von den - offenbar vor allem psychischen - Nachwirkungen zu erholen, macht er Urlaub im Hotel von Signor Bardoni am Golf von Neapel. Dort wohnt auch Lucy Dawson. Am 11. September wird die nette alte Dame im Haus Nr. 27, Sektion 12 in Pompeji tot aufgefunden, stranguliert mit einem Seidenschal. Geld und Schmuck hat der Täter zurückgelassen, ein Raubmord war es nicht. In ihrem Zimmer entdeckt James einen Plan von Pompeji. Das Haus Nr. 27 und der Weg dorthin sind angestrichen: "Sie wusste genau, wohin sie ging. Sie hatte sorgfältig den Weg zu ihrem eigenen Tod markiert."

A Fragment of Fear

Mrs. Dawson wird im protestantischen Friedhof von Neapel beigesetzt. Eine Gruppe, die sich "The Stepping Stones" nennt, schickt einen Kranz. Die Ermittlungen der italienischen Polizei sind lustlos. Wieder in England, stellt James eigene Nachforschungen an, die ihn in ein Hotel in einem Seebad führen, wo Mrs. Dawson die meiste Zeit des Jahres verbracht hat. Als er im Zug zurück nach London fährt, wird er von einer Frau mit teigigem Gesicht angesprochen. Die Frau ist lesbisch und katholisch, erzählt aus ihrem traurigen Leben und überreicht ihm zum Abschied einen Umschlag. Zuhause findet James in dem Kuvert nicht den erwarteten religiösen Traktat, sondern einen Drohbrief. Er stellt fest, dass der Brief auf seinem eigenen Papier und mit seiner eigenen Maschine getippt wurde. Jemand muss in seiner Wohnung gewesen sein.

A Fragment of Fear

Wenn man das in das digitale Zeitalter überträgt, landet man beim "Bayern-Trojaner" unserer Tage. Heute würde man dem Observierten vielleicht Kinderpornographie auf den PC spielen (falls man mit der Software umgehen kann). Früher war das noch unkomplizierter und nicht ganz so unpersönlich. Das Tonband, auf das James seine bisherigen Erkenntnisse gesprochen hat, endet mit einem unheimlichen Lachen, das da vorher nicht war. Es scheint die Stimme des Mannes zu sein, der ihn angerufen und zur Einstellung seiner Nachforschungen aufgefordert hat. Dann klingelt Sergeant Matthews an der Tür. Die Frau aus dem Zug hat ihn wegen versuchter Vergewaltigung angezeigt. James berichtet, was ihm widerfahren ist. Matthews bleibt skeptisch, nimmt aber die Beweise mit. Bald danach wird auch die Frau aus dem Zug ermordet. James meldet sich auf dem Polizeirevier als Zeuge. Er erfährt, dass es keine Anzeige gegen ihn gibt und auch keinen Sergeant Matthews.

A Fragment of Fear

So beginnt eine dieser Geschichten, aus denen Paul Dehn gern Drehbücher machte. Dehn, früher Filmkritiker, gehörte im Zweiten Weltkrieg zu einer Spezialeinheit des britischen Geheimdiensts, die hinter den feindlichen Linien operierte, dort Sabotageoperationen durchführte und gezielt Leute umbrachte. Er selbst wurde in Frankreich und Norwegen eingesetzt, und er wusste wohl von der tollkühnen Tat des holländischen Agenten Peter Tazelaar, der eines Nachts an der Küste vor Scheveningen aus dem Wasser kam, seinen Taucheranzug abstreifte und in dem Smoking, den er darunter trug, in das Luxushotel spazierte, in dem die Deutschen ihre Feste feierten. So fängt zwar nicht Ian Flemings Goldfinger an, wohl aber die Verfilmung mit Sean Connery (Bond kämpft gegen südamerikanische Revolutionäre und Drogenhändler, nicht die Nazis). Dehn hatte vorher das Drehbuch aufpoliert.

Goldfinger

Seine eigenen Erfahrungen verarbeite Dehn im Buch zu Orders to Kill (1958; der Held soll im von den Nazis besetzten Paris einen vermeintlichen Doppelagenten töten). Von ihm stammen auch die Drehbücher zu Martin Ritts Verfilmung von John le Carrés The Spy Who Came in from the Cold und zu Sidney Lumets The Deadly Affair (nach le Carrés Call for the Dead und mit James Mason als George Smiley, auch wenn er hier Dobbs heißt). Viel zu wenig bekannt ist Richard C. Sarafians Fragment of Fear (1970), der ebenfalls auf einem Drehbuch von Paul Dehn (und natürlich dem Roman von John Bingham) basiert. Das ist schade, denn dieser Film ist Teil einer Trilogie mit David Hemmings, die so lange aktuell bleiben oder stets aufs Neue werden wird, wie es Verschwörungen bzw. die sie erfindenden Theorien gibt. Fragment of Fear kann nicht nur sehr gut neben Michelangelo Antonionis Blowup (1966) und Dario Argentos Profondo rosso (1975) bestehen, er wird mit den Jahren immer besser, während die beiden anderen inzwischen doch ein wenig gealtert sind - das Schicksal vieler anerkannter Meisterwerke (Antonioni) und Kultfilme (Argento). Sehr sehenswert sind aber alle drei.

Das ist jetzt der Moment, da der Hinweis angebracht erscheint, dass ich nicht darüber schreiben kann, was ich an den drei Filmen und dem Buch so mag, ohne im einen oder anderen Fall die Auflösung zu verraten. Ich persönlich finde das nicht weiter schlimm, weil nicht primär die Identität des Mörders wichtig ist, weil ein Vorwissen nur zur genaueren Beobachtung einlädt und das intellektuelle Vergnügen steigert, und weil besagte Werke weniger gelungen wären, wenn sich alle Sicherheiten nicht sowieso gleich wieder auflösen würden. Ich wollte es aber doch erwähnt haben, damit mir nachher keine Klagen kommen.

Modephotograph mit Gangstern

Wissen Agenten mehr als wir über die Wirklichkeit, weil sie ihr hinter die Kulissen blicken? Oder sind sie in einer chaotischen und widersprüchlichen Welt nur besser darauf geschult, die geeigneten Fragmente auszuwählen und diese so zu kombinieren, dass der Anschein einer zusammenhängenden "Erzählung" daraus entsteht, wie Peer Steinbrück, Kanzlerkandidat in spe und Fan von John le Carré, jetzt immer sagt? Ist das der Grund, warum so viele Agenten Spionageromane schreiben? Dazu eine Stelle aus le Carrés Text über John Bingham, seinen alten Chef beim MI5, einen Meister des Verhörs und das Vorbild für George Smiley:

Ein Vernehmungsbeamter ist nichts, wenn er nicht der Herr über viele Fiktionen ist, und John war es. Vor seinem Verdächtigen sitzend, die Schwankungen in der Stimme des Verdächtigen genauso hörend wie seine Worte, die Körpersprache und die winzigen Flexionen des Gesichts beobachtend, probiert der gute Vernehmungsbeamte unbewusst Geschichten an wie Kleider: würde ihm diese passen, oder würde ihm jene besser passen? Ist er diese Person oder jene - oder überhaupt eine ganz andere Person? Und wenn ich in seinen Schuhen stecken würde, was würde ich dann sagen? Die ganze Zeit über lotet er die Möglichkeiten des Charakters aus, der da vor ihm sitzt.

Klingt wie ein Trainingsprogramm für angehende Romanschriftsteller und Drehbuchautoren, und auch für Historiker, die lesbare Bücher verfassen, indem sie Zusammenhänge deutlich machen (oder vielleicht nur welche herstellen, wo keine sind?). "Bingham", so le Carré, "schrieb mit der Autorität einer außergewöhnlich breiten Erfahrung über Menschen in bizarren Situationen." Am bizarrsten sind die Situationen in A Fragment of Fear. Als der Roman verfilmt wurde, war es eine hervorragende Idee, die Hauptrolle mit David Hemmings zu besetzen, der als Schauspieler immer etwas unterschätzt wurde und dank seiner Rolle in Blowup die Aura des Geheimnisvollen mitbrachte, das Gefühl, dass hinter den schönen Bildern von Urlaubsparadiesen und von Swinging London etwas Abgründiges und Gewalttätiges lauert. Der Filmhistoriker darf sich freuen, weil so das Mittelstück einer Trilogie entstand, deren Teile noch ein wenig schillernder werden, wenn man sie in Bezug zu den beiden jeweils anderen setzt.

Oben: Blowup. Unten: A Fragment of Fear

Hemmings spielt in allen drei Filmen einen Mann, der beruflich mit der Überführung der (subjektiven) Wirklichkeit in eine künstlerische Ausdrucksform beschäftigt ist. In Profondo rosso ist er ein Jazzmusiker, der am Konservatorium Unterricht erteilt und seine Schüler daran erinnert, dass der Jazz ursprünglich in Bordellen beheimatet war und man ihm das auch anhören sollte (so wie der Film, will Argento damit sagen, eine ziemlich wüste Angelegenheit war, bevor ihn das Bildungsbürgertum durch die Mangel drehte). In A Fragment of Fear ist er ein Autor, der einen Stoff für sein nächstes Buch sucht. Und in Blowup ist er ein Photograph.

Vorbild für Antonionis namenlose Hauptfigur, die hier Thomas heißen soll, weil es so im Drehbuch steht, war David Bailey, damals der angesagteste Photograph des Swinging London. Bailey veröffentlichte 1965 seine berühmte "box of pin-ups": eine Schachtel mit 36 Promi-Porträts, von John Lennon & Paul McCartney über Brian Jones, Marianne Faithfull und Jean Shrimpton bis zu David Hockney und Lord Snowdon, mit Mick Jagger auf dem Deckel. Die Box war auch ein wenig berüchtigt, weil ein Photo der Kray-Zwillinge mit enthalten war (das Photo ist auf dem Cover von John Pearsons The Profession of Violence zu sehen) - zwei brutalen, von der Glamour-Gesellschaft romantisierten Gangstern. In den Nachtclubs der Zwillinge trafen die High Society und das Show Business auf das organisierte Verbrechen. Die Krays orientierten sich bei der Ausübung ihres Gewerbes an Gangsterfilmen, bewirteten in ihren Clubs Filmstars aus Hollywood, die echte Gangster sehen wollten und waren, abgelichtet von David Bailey, in derselben Schachtel wie Michael Caine zu kaufen, der später den Gangster in Mike Hodges’ von den Zwillingen und anderen Villains inspirierten Get Carter spielte. Wurde da die Realität von der Fiktion eingeholt oder umgekehrt?

Auf der Rückseite von Baileys Doppelporträt der Krays gab es einen Text des Journalisten und Romanautors Francis Wyndham, damals mit Catherine Deneuve verheiratet, der die beiden Gangster ausführlich interviewt hatte:

Sich in der Gegenwart der Zwillinge aufzuhalten bedeutet, sich in die Atmosphäre (lakonisch, üppig, gefährlich) eines frühen Bogart-Films zu begeben, wo das Leben auf seine einfachsten Kategorien reduziert wird und doch vieldeutig bleibt.

Außer mit Bogart werden die Krays noch mit den durch Filme zur Legende gewordenen Banditen Jesse und Frank James verglichen. Damit sind einige der wesentlichen Elemente von Antonionis Film benannt: das Ineinanderübergehen von Realität und Fiktion, die Vieldeutigkeit und die Gewalt, die unter der glitzernden Oberfläche lauert und in Blowup schon spürbar ist, während sie in der Realität noch erfolgreich zugedeckt wurde (das böse Erwachen kam 1969, als die Krays wegen Mordes zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt wurden). Antonioni engagierte Francis Wyndham als Berater und transformierte das, was ihm dieser an Material zur Verfügung stellte, in einen Film, von dem es oft heißt, er sei zu philosophisch und zu abstrakt, zu zerebral und zu abgehoben. Blowup bleibt aber immer in der Realität verhaftet, obwohl er diese paradoxerweise in Frage stellt.

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