Leben in der Platte

Chemnitz 1975. Bild: Eugen Nosko, Deutsche Fotothek / CC-BY-SA-3.0

Macht die aktuelle Wohnungsnot die Rationalisierung des Bauens wieder zur Zauberformel?

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Im gleichen Maße, wie sich vielerorts die Frage nach bezahlbarem Wohnraum mit Vehemenz stellt, wird der Wohnungsbau augenscheinlich erneut zum Gegenstand von Rationalisierungsbestrebungen. Die Industrialisierung des Bauens, lange Zeit - und mit dem Fingerzeig auf realsozialistische Metastasen - als Krebsgeschwür der modernen Architektur verteufelt, scheint angesichts der derzeitigen Rahmenbedingungen erneut die Geister zu beflügeln. Das mag zwar manch ungute Assoziation auslösen, aber der Entwicklungsdruck wirkt schier übermächtig.

Relativierend sollte man insofern auf ein Jahrhundert zurückblicken, in dessen höchst unterschiedlichen Phasen das Schreckgespenst "Wohnungsnot" immer wieder an die Wand gemalt wurde. Denn so drängend die derzeitigen Probleme auch sein mögen, neu und einzigartig sind sie nicht. Viele Akteure und Strömungen mussten unter dem Druck der Verhältnisse bereits mehrmals darauf hinarbeiten, Behausungen in ausreichender Menge und zu erschwinglichen Kosten verfügbar zu machen: Politiker und Parteien (zur Legitimation ihrer selbst), die (Bau)Industrie (weil sich mit solchen Modernisierungsimpulsen Geld machen und die Voraussetzung für künftige Absatzmärkte schaffen ließ) und weite Kreise der Bevölkerung (aus naheliegenden Gründen).

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Anfang der 1980er Jahre fertiggestellte 17-geschossige Hochhäuser in Pirna-Sonnenstein.Bild: Norbert Kaiser / CC-BY-SA-3.0

Die Avantgarde hatte ohnehin vor, sich des Themas zu bemächtigen: Sie zettelte, wohl mit gutem Grund, jene Rebellion gegen das Althergebrachte an, die noch heute so nachhaltig weiterwirkt. Gerade die fortschrittlichen Architekten in den 20er Jahren wollten die Welt, so wie sie ist, zunächst einmal ungeschminkt zur Kenntnis nehmen, um sie dann zu verändern. Rationalisierung war für sie Mittel zum Zweck. Richtig ist, dass die Avantgarde das Aufziehen einer industriellen Massenkultur ausdrücklich begrüßt hat. Und genauso stimmt es, dass auch deren Signaturen akzeptiert und verarbeitet wurden.

Weichenstellung und Startsignale

Unmittelbar nach dem 1. Weltkrieg hatte sich die Wohnungsfrage mit Vehemenz artikuliert. Mehr und mehr machte sich die Einsicht breit, dass mit handwerksbetonten Standards und Methoden keinesfalls die anstehenden quantitativen Probleme zu lösen sein würden. Die Forderung nach der Industrialisierung des Bauens und, damit einhergehend, der Typisierung von Gebäuden lag demnach nahe. Sie gehörte zum theoretischen Anfangsbestand des Wohnungs- und somit des Städtebaus in der Ära der Moderne. Allerdings: In kaum einem Sektor klafften Anspruch und Wirklichkeit derart auseinander wie in dem des Bauwesens.

Bis 1914 war die Erstellung und Finanzierung von Wohnraum eine weitgehend private Angelegenheit. Das änderte sich in der Weimarer Republik, als angesichts der Notlage und auf der Basis neuer Gesetze (z.B. Hauszinssteuer) die Kommunen in großem Maße Träger des Wohnungsbaus wurden. Das schiere Mengenproblem und begrenzte Finanzmittel zwangen förmlich zu Rationalisierung. Die Gründe für die angestrebte Industrialisierung des Bauvorgangs selbst lagen dabei nicht nur in der Absicht einer unmittelbaren Baukostensenkung, sondern auch in der jahreszeitlichen Nivellierung der Belastungsspitzen durch die geforderte enorme Bauleistung. Als Folge sollten sich eine erheblich höhere Baugeschwindigkeit und eine größere Witterungsunabhängigkeit einstellen. Da insgesamt ein industrieller Wachstumsschub das Land erfassen sollte, verfolgte man parallel dazu das Ziel, das kostbare Potential der Facharbeiter auf die Investitionsgüter-Industrie zu konzentrieren und nicht auf den volkswirtschaftlich vergleichsweise unproduktiven Wohnungsbau.

Die Anfänge der Vorfertigung in Deutschland lagen in den ersten beiden Jahrzehnten dieses Jahrhunderts. Walter Gropius, der in Dessau-Törten mit dem Thema Vorfertigung laborierte, hatte es programmatisch formuliert:

Die menschliche Behausung ist eine Angelegenheit des Massenbedarfs. Genauso, wie es heute 90 Prozent der Bevölkerung nicht mehr einfällt, sich ihre Beschuhung nach Maß fertigen zu lassen, sondern Vorratsprodukte bezieht, die infolge verfeinerter Fabrikationsmethoden die meisten individuellen Bedürfnisse befriedigt, so wird sich in Zukunft der einzelne auch die ihm gemäße Behausung vom Lager bestellen können. (...) Die grundlegende Umgestaltung der gesamten Bauwirtschaft nach der industriellen Serie hin ist daher zwingendes Erfordernis für eine zeitgemäße Lösung des wichtigen Problems. Dieses muß gleichzeitig von drei verschiedenen Gebieten aus, vom volkswirtschaftlich organisatorischen, vom technischen und vom formalen, angefaßt werden.

Walter Gropius