Leben in der Platte

Seite 3: Die Bedeutung der "Platte"

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Keine Facette hat das Bild des Bauens in der DDR so geprägt wie die "Platte". Sie ist zum - heute stigmatisierten - Inbegriff für eine Rationalisierungsmanie geworden. Obgleich auch in der jungen BRD ein enormes Wohnungsbau-Programm nur auf der Basis von Zentralisierung und einer gewissen Rationalisierung erfolgreich war, so ist die "Platte" doch weit mehr, nämlich gleichermaßen materielles wie ideelles Symptom. Und sie steht für die Erhebung des industriellen Bauens zur Staatsdoktrin.

Seit dem durch Stalins Tod ausgelösten kulturpolitischen Umbruch hatten Wohn- und Städtebau der DDR vornehmlich einer Zielsetzung zu gehorchen: ökonomischer Effizienz. Sozialwissenschaftlich verbrämt im Gedanken vom "sozialistischen Wohngebiet" wurde eine rein wirtschaftlich (oder wie häufig postuliert wurde: von der Auslagerlänge eines Krans) bestimmte Bauweise legitimiert. "Industriell" musste das Bauen nun vonstatten gehen.

Plattenbauten an der Dr.-Wilhelm-Külz-Str. in Hoyerswerda. Bild: Doris Antony, Berlin / CC-BY-SA-3.0

Die Stadtentwicklung vollzog sich weitgehend außerhalb der Innenstädte: Es boomten die Plattensiedlungen "jwd" und die Großtafelbauweise feierte, was das Bauvolumen angelangt, wahre Triumphe. Da die neue Art und Weise der Herstellung (vermeintlich) neue Formen des Hauses und des ‘Stadtraums’ erforderte, waren es offene Bebauungsstrukturen - zumeist in strikter und monotoner Zeilenbebauung -, die an die Stelle der bisherigen Straßen- und Blockrandbebauung rückten. So entstanden mehr oder minder begrünte Wohngebiete, die bewusst nicht an historische Raum- und Bebauungstypologien anknüpften - und dies auf Grund des damaligen Entwicklungsstandes der industriellen Bauweise auch gar nicht konnten. So planbar wie das Bauen sollte auch das Leben selbst sein.

Letztlich aber scherte das weder Bewohner noch politisch Verantwortliche. Jener hatte - WBS 70 hin, Wohnkomplex her - endlich eine adäquate "Vollversorgung" (incl. Heizung und Bad) und ohnehin keine Alternative. Und für diese war die "Platte" entweder die Inkarnation der wissenschaftlich-technischen Revolution (in der Ära Ulbricht) oder das ideale Transportmittel für die Verwirklichung der "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" (zu Zeiten Honeckers).

Was als Menetekel für den fordistischen Städtebau aufscheint, ist nichts anderes als ein Beispiel für die gesellschaftliche Problemlösungsstrategie der DDR-Führung: Nämlich soziale Probleme durch technische Maßnahmen zu lösen. Dabei ist eine inhaltliche - oder gar kontroverse - Debatte um eine sozialistische Wohnform (wie sie beispielsweise in den "Kollektivhäusern" der jungen Sowjetunion einen paradigmatischen, wenngleich kaum verwirklichten Niederschlag fanden) in der DDR nicht nachweisbar. Im Gegenteil fußten die verwendeten Grundrisstypen quasi ausschließlich auf dem Konzept der Kleinfamilie in der Kleinstwohnung. Und das hieß in der Konsequenz: Hierarchisierung und funktionale Einengung von Räumen, Festschreibung von "betriebstechnischen Abläufen" (Gropius) usw. Die grundsätzliche Alternative zu diesem Grundrisskonzept, die Addition annähernd gleich großer Räume (wie in vielen Gründerzeitbauten) für alle Nutzer der Wohnung, wurde gar nicht erst in Betracht gezogen.

Obgleich man im Ergebnis konstatieren muss, dass das Wohnungs- (als rein quantitatives) Problem in der DDR dank der Platte weitgehend entschärft werden konnte, trug die Rigidität dieser Bauform und "Städteproduktion" andererseits auch sein Schärflein bei zum Scheitern des Systems. Dass durch die (scheinbar endlose) Addition gleicher Bauelemente - egal ob ‘Platte’ oder Haus - der Schwellenwert einer überschaubaren und begreifbaren Ordnung häufig überschritten wurde, ist hierbei nur ein Aspekt. Die Unbedingtheit und einseitige Überbetonung des industriellen Bauens hatte seine ‘Rationalität’ letztlich selbst dreidimensional in Frage gestellt.

Was bleibt?

Die Wenigsten werden wohl in Begeisterungsstürme ausbrechen, wenn sie sich die baulich-räumlichen Ergebnisse der kurz skizzierten "Rationalisierungsphasen" des deutschen Wohnungsbaus vergegenwärtigen. Desungeachtet bestimmt "das Haus für alle" auch heute wie kaum ein anderes Planungsthema das Bewusstsein der Öffentlichkeit. Dabei stehen die Tatsache, dass Hunderttausende von erschwinglichen Wohnungen fehlen, und die Geschichte der seriellen Bauproduktion in einem immanenten Zusammenhang.

Ob daraus (d.h. den immer wieder gleichen Zwängen und den immer wieder ähnlichen Ansätzen) jedoch gefolgert werden kann, dass die Rationalisierung des Wohnungsbaus heute wiederum die sanktionierte Leitlinie sein - und erneut nicht zu allgemein befriedigenden Ergebnissen gelangen - muss: Dies sei fürs erste dahingestellt. Gleichwohl, man sollte sich von diesen Herausforderungen und den teils ernüchternden historischen Erfahrungen nicht ins Bockshorn jagen lassen, sondern die Herausforderung annehmen und das Beste daraus machen. Wie heißt es doch so schön? "Not macht erfinderisch."