Leben wir in einer Corona-Diktatur?
- Leben wir in einer Corona-Diktatur?
- Ist das "Corona-Regime" als autopoietisches System zu verstehen?
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Zum aktuellen Stand der Lockdown-Gesellschaft
Kürzlich wurde eines der Unworte des Jahres gekürt: "Corona-Diktatur". Es würden mit diesem Wort jene verhöhnt, so die Jury, die in wirklichen Diktaturen lebten und sich auflehnten.
Die Beobachtung ist sicher nicht falsch. Allerdings liegt dem Urteil der Unwort-Jury wohl ein naives Verständnis von diktatorischen Verhältnissen zugrunde. Unter modernen Umständen kann kaum mehr die Rede von persönlich agierenden Diktatoren sein, denen es möglich wäre, ein Volk zu unterjochen. Es ist vielmehr die Dominanz von Systemen, die rechtfertigt, von Verhältnissen einer Diktatur zu sprechen. Dies mag ein Blick etwa auf die untergegangenen politisch dominierten sozialistischen Regime des "Ostblocks" verdeutlichen.
Kennzeichnend war hier die Dominanz eines politischen ("kommunistischen") Systems, das nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche beherrschte. Etwa im Versuch, wirtschaftliche Belange von politischer Hand zu planen, nur "sozialistische" Kunst zuzulassen, religiöse Tendenzen in der Bevölkerung zu unterdrücken, Sport im Sinne des Ausdrucks kommunistischer Überlegenheit zu fördern, Massenmedien politisch zu zensurieren, das Rechtssystem im Sinne des Machterhalts kommunistischer Regime zu missbrauchen.1 Mit Blick auf China etwa kann auch heute noch auf eine Spielart dieser gesellschaftlichen Verhältnisse verwiesen werden.
Auch der kapitalistisch-dekadente "Westen" steht allzeit in Verdacht, nicht dem Idealtypus einer funktional differenzierten Gesellschaft2 zu entsprechen, bei der von einer Heterarchie von Funktionssystemen wie etwa Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Kunst, Religion, Massenmedien auszugehen ist. Obgleich stets widerstrebt, hier von diktatorischen Verhältnissen zu sprechen, wird doch oft eine Dominanz des Wirtschaftssystems festgestellt, die dazu führt, dass viele gesellschaftliche Bereiche auf Kosten ihrer Funktionalität kommerziellen Interessen unterworfen werden.
So im Ruf nach in ihrer Macht geschwächten "schlanken Staaten", die es nicht mehr vermögen, etwa Steuern nach politischen Prinzipien durchzusetzen, sondern gezwungen sind, diese in einem "Steuerwettbewerb" konkurrierend und nach wirtschaftlicher Logik einzutreiben. Oder in der Tendenz, Bildung und Wissenschaft nach Maßgabe ihrer wirtschaftlichen bzw. technischen Verwertbarkeit zu fördern. Oder im Sinne einer hochgradig kommerziell beeinflussten Kunst. Nicht zuletzt ist aktuell das Gesundheitssystem zu nennen, dessen Profitabilität, wie gegenwärtig zu sehen ist, auf Kosten seiner Funktionalität vorangetrieben wurde.
Kann die Rede sein von einem Corona-Regime?
Angesichts gegenwärtiger Verhältnisse ist zu fragen, ob wir es seit dem Novum gesellschaftlicher "Lockdowns" mit einem dominanten gesellschaftlichen System zu tun haben. Einem System, das vermag, eine Vielzahl von funktionalen Sphären der Gesellschaft zu beherrschen, um ihnen seine eigentümliche Logik aufzuzwingen.
Auf den ersten Blick mag dies genau so erscheinen. Nahezu alle gesellschaftlichen Sphären unterliegen einem "Corona-Regime", dem es exklusiv darum geht, die Fallzahlen von Infektionen zu senken. Die unterschiedlichen funktionalen Felder der Gesellschaft erscheinen derzeit gewissermassen als Programme, die diesem Ziel untergeordnet sind.
In wirtschaftlicher Hinsicht kommt es zu Öffnungen lediglich nach Maßgabe von Schutzkonzepten, etwa dem Arbeiten im "Homeoffice". Die Gastronomie ist weitestgehend, abseits von Angeboten des "take away", stillgelegt; die Reisebranche ist fast völlig heruntergefahren. Eine noch weitergehende wirtschaftliche Einschränkung von Unternehmen abseits von lebensnotwendigen Sektoren, wie der Lebensmittelproduktion und der Logistik, liegt angesichts allfällig steigender Fallzahlen im Bereich des Möglichen.
Künstlerisch-kulturelle Veranstaltungen gelten derzeit weitgehend als obsolet. Gleiches gilt für religiöse Zusammenkünfte und Sport in organisierter Form, etwa in Fitnesscentern. Das schulische und universitäre Erziehungssystem ist massiv eingeschränkt; sei es, indem Kurse und Veranstaltungen ganz abgesagt werden, oder nur in der eingeschränkten Form des Fernunterrichts stattfinden.
Auch wissenschaftliches Arbeiten erfolgt aktuell in beschränkter Form. Die in diesem Bereich, scheint es, leicht zu erfüllende Pflicht zur Abwesenheit, nötigt Kommunikation in der eingegrenzten Form über soziale Medien auf; wissenschaftliche Symposien und Tagungen finden über Videokonferenzen statt oder werden gleich ganz abgesagt.
Auch persönliche, rechtlich zugesicherte Freiheiten werden einem "Corona-Regime" untergeordnet. In vielen Ländern ist sowohl die Anzahl und Form der Begegnung von Personen, sowie deren Bewegungsfreiheit auf eine Weise reguliert, bzw. eingeschränkt, die noch vor einem Jahr undenkbar gewesen wäre.
Politik als Getriebene eines Corona-Regimes?
Nun lässt sich kritisch einwenden, dass es übertrieben erscheint, gar abwegig, hier von einem "Corona-Regime" zu reden, da alle derzeit politisch durchgesetzten Maßnahmen nicht Selbstzweck sind, oder schlimmer noch der Unterjochung der Bevölkerung dienen, sondern im Gegenteil darauf abzielen, so schnell wie möglich beendet zu werden. Maßnahmen wie Lockdowns in Verbindung mit einer Impfkampagne beispiellosen Ausmaßes dienen dazu, Leben zu schützen, so bald wie möglich zur Normalität zurückzukehren.
Diese Perspektive als aktuell gültiger politischer Strategie ist nicht anzuzweifeln, kann aber dennoch nicht gänzlich beruhigen. Denn von einem "Corona-Regime" muss nicht unbedingt als einer politisch dominierten Perspektive die Rede sein. Auch der Verweis auf ein (im Entstehen begriffenes) autopoietisches System3, das in seiner Eigendynamik eine Dominanz entwickeln kann, der sich auch Politik unterzuordnen hat, bietet eine sinnvolle Möglichkeit, um von einem "Corona-Regime" zu sprechen.
Tatsächlich gibt es eine Vielzahl von Hinweisen, dass aktuell auch Politik in ihrer Funktionalität durch ein "Corona-Regime" behindert wird, also nicht mehr dominanter Akteur im Angesicht der Corona-Pandemie ist, sondern Getriebene des schlichten Fakts "hoher Fallzahlen".
Dafür spricht, dass derzeit übliche legitimierende politische Prozesse der Entscheidungsfindung, etwa durch parlamentarische Debatten, weitgehend obsolet erscheinen und durch Notfallregulierungen ersetzt werden.
Dafür spricht auch, dass derzeit komplexere politische Überlegungen oder gar programmatische Strategien angesichts "hoher Fallzahlen" nicht in Erwägung gezogen werden.
Sogar die schlichte, aber zentrale Frage wird politisch kaum diskutiert, ob die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie (langfristig) schlimmere Folgen für den Verlust an Menschenleben zeitigen, als die Pandemie selbst. Kennzeichen eines die Politik dominierenden "Corona-Regimes" ist zudem, dass derzeit kaum möglich ist, die aus wissenschaftlicher Sicht fragwürdige Effizienz der Maßnahmen gegen die Pandemie – insbesondere der Lockdowns – politisch auch nur zur Kenntnis zu nehmen.
Ob angesichts gegenwärtiger gesellschaftlicher Verhältnisse Sinn ergibt, von einer "Corona-Diktatur" zu sprechen, entscheidet sich an dem Sachverhalt, ob von einem autopoietischen, sich in seiner Dynamik selbst erhaltenden dominanten System die Rede sein kann. Einem System, dem möglich ist, fast alle funktionalen Sphären der Gesellschaft, nicht zuletzt die Politik selbst, zu dominieren. Dieser Frage soll wie folgt nachgegangen werden.
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