Lebenserwartung und soziale Schicht

Während in den Industrieländern die soziale Ungleichheit und der Unterschied in der Lebenserwartung ansteigen, scheint dies in Schwellenländern wie Brasilien (noch) anders zu sein

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Die Lebenserwartung scheint in allen Ländern noch zu wachsen, auch wenn es Zeichen dafür gibt, dass in den reichen Ländern bereits ein Peak erreicht sein könnte oder bald überschritten werden könnte, was mitunter auf den modernen Lebensstil mit falscher Ernährung, zu wenig Bewegung und sich ausbreitender Fettleibigkeit zurückgeführt wird (Lebenserwartung der jungen Generation könnte sinken). Zudem wächst in vielen Ländern der Unterschied der Lebenserwartung zwischen Reichen und Armen, so dass die Kluft zwischen den Schichten nicht nur im Hinblick auf das Einkommen zunimmt (In weiten Teilen der USA sinkt die Lebenserwartung im internationalen Vergleich). Bekannt ist, dass es einen Zusammenhang der Lebenserwartung mit der sozioökonomischen Schicht gibt. Wer ärmer ist, lebt statistisch gesehen auch in der Regel kürzer - was einige Jahre ausmachen kann (Lebensentscheidende Geografie).

Das könnte aber nur der Fall in den reichen Ländern sein, während in den armen Ländern die Lebenserwartung weiter anzusteigen scheint. Das wäre auch wenig verwunderlich, weil die armen Länder hier weiter unten ansetzen und mit einer wachsenden Mittelschicht und einer besseren Gesundheitsversorgung noch gegenüber den westlichen Industrieländern aufholen können. Aber es gibt eben nicht nur Unterscheide zwischen armen und reichen Ländern, sondern auch zwischen armen und reichen Gegenden und Stadtvierteln in einem Land.

Die Sozialmedizinerinnen Ana Paula Belon und Marilisa Barros von der Staatlichen Hochschule Campinas, Sao Paulo, haben die Lebenserwartung der Bevölkerung der Stadtviertel von Campina mit einer Million Einwohnern zwischen 2000 und 2005 untersucht, um zu sehen, inwiefern sich hier reiche von armen Stadtvierteln unterscheiden. Die Studie ist in den International Journal for Equity in Health von BioMed Central erschienen. Demografische Unterschiede gibt es natürlich neben dem Einkommen auch andere: So leben in den ärmeren Vierteln etwa deutlich mehr Kinder und weniger Senioren. In den ärmeren Vierteln war 2000 die Lebenserwartung bei der Geburt für Männer um 6,9 Jahre und für Frauen um 5,5 Jahre kürzer als für die Menschen in den reicheren Vierteln. In den fünf Jahren hat sich die Situation aber verbessert, am deutlichsten in den ärmsten Vierteln und bei den Männern, während sie in den reichen Vierteln nur noch wenig angewachsen ist. Dort ist sie für beide Geschlechter von 75,2 Jahren in 2000 auf 76,5 Jahre in 2005 angewachsen, in den ärmeren Viertel jedoch von 68,7 auf 72,3 Jahren. Für Männern aus den ärmeren Vierteln ist nach den Daten der Unterschied in der Lebenserwartung zur Zeit der Geburt gegenüber den Männern aus den reichen Vierteln innerhalb von 5 Jahren von 7 Jahren auf 4,3 Jahre gefallen, bei den Frauen schrumpfte der Unterschied von 5,5 Jahren auf 3,6 Jahre.

Interessant ist vor allem die Erklärung der Beobachtungen. Die Wissenschaftlerinnen führen die innerhalb von 5 Jahren deutlich gestiegene Lebenserwartung vor allem auf einen Ausbau der medizinischen Versorgung, z.B. durch ein Familiengesundheitsprogramm, mehr finanzielle Unterstützung, einen besseren Zugang zur Ausbildung und eine Erweiterung der Lebensmittelprogramme sowie einen Rückgang der Todesfälle durch Gewalt zurück. Besonders gefährdet sind junge Männer in den unteren Schichten. Im Alter bis 20 Jahre ist der Unterschied der Lebenserwartung zwischen Männern und Frauen am höchsten. Ab 30 Jahren geht der Unterschied kontinuierlich zurück. 2000 lag der Unterschied bei 9,6 Jahren, 2005 aber nur noch bei 7,1 Jahren. Zwischen 2000 und 2005 erhielten die Armen auch mehr staatliche Hilfen, so dass der Unterschied zwischen Arm und Reich ein wenig eingeebnet wurde, was sich eben auch auf die Lebenserwartung und die Neigung zum riskanten Verhalten ausgewirkt haben könnte.

Die Wissenschaftlerinnen hoffen offenbar, dass der Trend in Brasilien anders als in den alten Industrieländern verlaufen könnte. Während sich dort der Unterschied hinsichtlich der Lebenserwartung vergrößert, könne "dieses Beispiel aus Brasilien auf den Gang zu einer Gleichheit in der Lebenserwartung zwischen den Geschlechtern, zwischen den Armen und Benachteiligten und den Reichen und im Komfort Lebenden hindeuten".