Lebenszeit zwischen Ankommen und Abreisen

Seite 2: Der Stadtraum wird flüchtig

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Der Spiritus rector der Tiny-House-Agglomeration ist der quicklebendige Architekt Van Bo Le-Mentzel, ein Architekt, der nicht so gerne feste Häuser baut, weil er die Straße liebt, die Straße als Ort temporärer Begegnungen. Sie wäre auch der geeignete Raum, sich kursorisch und ohne Bindung an Grundbesitz niederzulassen, wenn nicht der Automobilverkehr diesen in Städten einst freien Raum okkupieren würde.

Bekannt wurde Le-Mentzel 2010 durch "Hartz-IV-Möbel" zum Selberbauen. Die kleine Möbelserie ist an Entwürfen der klassischen Moderne orientiert. Über den Hocker heißt es: 10 Euro, 10 Schrauben, 10 Minuten. Ein Jahr später folgte das "Ein-Quadratmeter-Haus" und schließlich das Anhänger-taugliche "Unreal Estate House", das auf 5 m2 alles hat, was der Mensch zum Wohnen braucht, Schlafetage inbegriffen. Ganz schnell mutiert es zum Pop-up-Store oder zur Galerie. Die Baupläne gibt es gratis. Zum Bauhaus-Campus gehört eine offene fahrbare Werkstatt aus Holz, die auch vor Ort Hartz-IV- Möbel baut.

Haus "Tiny 100". 6,4 m2 mit Gästezimmer. Bild: Bernhard Wiens

"Unreal Estate" ist Le-Mentzels Anti-Begriff zur fortschreitenden Privatisierung des öffentlichen Raums, was sich auch in zunehmender Überwachung bemerkbar macht und in der Einhegung von Gated communities. Die Tiny-House-Bewegung hat weltweit viele Varianten, aber in Deutschland rückt sie in die Städte vor und ist keine Fluchtbewegung, wie Le-Mentzel betont. Sie geht offensiv mit dem öffentlichen Raum um und mit dem Bauplanungsrecht, das provisorische Lösungen zur Nutzung von Lücken und zum Upcycling segregierter Stadträume torpediert. Diese Räume situationsbedingt, flüchtig, zu füllen, ist für die "Tiny-Häusler" erfüllte Lebenszeit. Die Frage lautet: Wie sind Nachbarschaften in einer Einwanderungsgesellschaft zu gestalten?1

Le-Mentzel: "Die Stadt kann weder aus steinernen Fundamenten heraus gedacht werden noch können Masterpläne als Vorgabe der Stadtentwicklung dienen. Wir machen uns mit unseren Tiny Houses auf den Weg, die Stadt neu zu organisieren. Wir produzieren Gemeinschaft, gute Nachbarschaft." Die Tiny-Hausbauer legen den Finger in offene Wunden, machen aufmerksam auf das, was in der Stadt nicht geschieht.

Im "Haus der Menschenrechte" steht nicht nur der Paragraph des Grundgesetzes im Mittelpunkt, der da lautet: Eigentum verpflichtet, sondern das Holzhaus bietet auch einen Schlafplatz für Obdachlose. Flüchtlinge waren an der Aufbauphase beteiligt, und seinen Ausgang nahm der Tiny-House-Zug am berüchtigten LAGeSo, der damals ersten Anlaufstelle für die Flüchtlingstrecks. Van Bo Le-Mentzel redet gern und gut in Sprachbildern, und es mag seine beste Befähigung zur Architektur sein, Bilder und Zeichen zu schaffen.

"Gemeinschaft" ist ein mit rechter Ideologie aufgeladener Begriff, und das bewahrheitet sich auch heute, wenn sich Milieus voneinander abgrenzen und diskriminieren. Das führt zur Segregation in der Stadt. Le-Mentzel unterstreicht jedoch, dass die Gemeinschaft der Tiny-House-Bewegung sich gerade durch den Einschluss heterogener Elemente bildet. Das Experiment auf neue Formen des Miteinanders war auch schon der Ansatz der Ausbildung im "Bauhaus". Das Bauhaus hatte zudem einen demokratischen Anspruch, sofern es für den "Volksbedarf" plante.

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