Leiden, Leichen und letzte Worte
Hollywood bricht das vorerst letzte Tabu: "United 93", der erste Spielfilm zum 11.September
Es beginnt mit Gebeten in einer Sprache, die man nicht versteht. Aber weil das Publikum weiß, worum es hier geht, versteht es trotzdem sofort: Dies müssen sie sein, die Gotteskrieger, in den Stunden vor ihrem mörderischen Einsatz. Dann sprechen sie nicht mehr mit Gott, sondern miteinander, und jetzt helfen uns die Untertitel: "It's time" sagt einer, "es ist Zeit." Die Zeit ist offenbar reif für einen Film über "den 11. September". Ob man das darf, darüber wurde lange diskutiert. Jetzt ist es soweit: Paul Greengrass Film "United 93" ist nur der erste in einer Reihe von Filmen dazu, die hierzulande ins Kino kommen. Was ist das eigentlich für ein Film? Ein Dokudrama? Wohl nicht.
Mit Katastrophen kann man gut Geld verdienen. Und ein bisschen Ruhm gleich noch dazu. Das ist nicht nur in Amerika so, sondern auch in Deutschland: Nichts bekam zuletzt in unserem Fernsehen bessere Quoten, als die apokalyptischen Rührstücke "Sturmflut" und "Dresden".
In Filmen dieser Art muss der Untergang immer zunächst einmal groß und gewaltig sein, mit viel Gekrache und Gescheppere im Hintergrund, viel Leiden, Leichen und letzten Worten, mit Standhaftigkeitspathos der nicht-direkt Betroffenen und Tapferkeitspathos im unmittelbaren Angesicht des Todes, edlem Sterben antikischer Größe - und dazwischen dann am besten noch einem Liebespaar, rein und unschuldig wie die Hoffnung, das sich vielleicht in all dem Unglück erst findet, und auch wenn nicht, dann leuchtet es im katastrophalen Feuerschein zumindest noch heller und reiner.
"Die haben das Kino kopiert"
Im Grunde kennt man das Muster seit Homer und "Vom Winde verweht", und so war es auch für Nichtzyniker nur eine Frage der Zeit, wann "der 11. September" auch in Hollywood ankommen würde. Eigentlich ist es eher eine Rückkehr: Denn die brutale Attacke war wie ein Snuff-Movie zur prime Time. "Alles echt", inszeniert von begabten Amateuren. "Die Filme lieferten das Muster", kommentierte Regisseur Robert Altman: "Die haben das Kino kopiert. Wir haben ihnen das beigebracht."
Bereits seit längerem hat Hollywood in mehr oder weniger diskreter Form die Ereignisse umkreist. Dabei ging es zuerst um die Verarbeitung der Folgen, etwa in Spike Lees "The 25th Hour". Schon Stephen Spielbergs "Krieg der Welten" (vgl. Kompromisslos böse und mörderisch) wurde als Metapher auf die Angriffe verstanden, sein "Munich" (vgl. Das Blut des Terrors und die Milch der Fiktion) im Januar war ein offenkundiger, trotzdem vager Kommentar zu Bushs "Krieg gegen den Terror".
Bei der Oscar-Verleihung schließlich wurde ein neues allgemeines Hollywood-Interesse für Politik offenkundig - jetzt, fünf Jahre nach den Terrorangriffen, zwei Kriege und allerlei Illusionen später, ist es offenbar soweit: Mit Wucht vollzieht das US-Kino den Tabubruch, nimmt sich in gleich mehreren Spielfilmen des Themas an. Dass dabei auch die Kassendebakel des letzten Jahre eine Rolle spielten, darf man vermuten, denn wie gesagt, verdient man mit Katastrophen im Kino immer noch am besten. Aber Hollywood heißt immer auch Film als moralische Anstalt, die von Individuen erzählt, die sich gegen Schicksale wehren, die größer sind, als sie. Und in Zeiten, in denen das US-Selbstbewusstsein besonders angeknackst ist, muss man sich offenbar auch solcher und anderer "uramerikanischer" Tugenden besonders vergewissern.
Dass kann kaum einer besser, als Regieberserker Oliver Stone, bei dem Kino seit jeher moralische Anstalt ist, was ihn nicht daran hindert, seine Finger auch in Wunden und Widersprüche seiner Heimat zu legen. Unmittelbar nach den Anschlägen kritisierte er als einer von wenigen die Gleichschaltung der US-Medien, forderte, alle Seiten, auch regierungskritische Sichtweisen und die Perspektive der Täter müssten zu Wort kommen - im Stil von Pontecorvos berühmter "Battle of Algier" über den Algerienkonflikt. In seinem "Alexander" hat Stone eine Ahnung davon gegeben, wie so ein Film aussehen könnte. Dafür aber scheint die Zeit noch lange nicht reif.
Aber ebenso gewiss ist, dass Heldentum, Opfermythologie und tragisches Pathos in Stones Filmen nicht fehlen, und das darf man auch diesmal erwarten. "World Trade Center" heißt sein neuer Film lakonisch, und soll im August ins Kino kommen. Nicolas Cage spielt die Hauptrolle, einen der zwei Polizisten, die die zusammenbrechenden Zwillingstürme als letzte lebend verließen, und deren Einsatz der Film erzählt. Stone erklärt, er sehe den Film als "ernsthafte Meditation über das, was geschehen ist". Es gehe ihm, "um die Erforschung des Heldentums in unserem Land, das in seiner Humanität zugleich international ist".
Die einen und die anderen
Seit vergangenem Donnerstag läuft "United 93", der es geschafft hat, Stone zeitlich zuvorzukommen. Angeblich hat bereits der Trailer des Films in den USA bei Teilen des Publikums zu hysterischen Reaktionen geführt. Der Film handelt von jenem vierten Flieger der United Airlines, demjenigen, der vom vierten Terror-Kommando Osama Bin Ladens auserkoren worden war, um ins Weiße Haus einzuschlagen, und der sein Ziel nicht ereichte.
Fast in Echtzeit erzählt der Film von den letzten zwei Stunden vor dem vorzeitigen Absturz des Flugzeuges über Pennsylvania. Aus Bord-Tonbändern, Funksprüchen sowie Mitteilungen der Passagiere per Mobiltelefon und sms wurde in den Abschlußberichten der Regierung rekonstruiert, dass die Passagiere, nachdem das Flugzeug von dem Terror-Kommando gekapert, die Piloten getötet wurden, und man von den New Yorker Attentaten bereits über Verwandte erfahren hatte, sich in einer Verzweiflungsaktion zur Wehr setzen, und versuchten, wiederum die Terroristen zu überwältigen. Sekunden später stürzte die "United 93" ab, ihr Ziel hatte sie verfehlt.
Weil es Überlebende nicht gibt, kann man über die Einzelheiten dieser letzten Sekunden des Fluges UA 93, und was ihnen vorausging, nur spekulieren. Daher ist alles in diesem Film fiktiv. Obwohl Regisseur Paul Greengrass viel und akribisch recherchiert hat, ist alles dramatisiert. Auch "United 93" ist, wie jede andere Nicht-Doku, kein Bemühen darum, Fakten darzustellen, sondern um eine "höhere Wahrheit", ein Stück Welterfindung der Macher.
Die Welt, die Greengrass erfindet, ist vor allem durcheinander und unübersichtlich. Es wackelt und schüttelt enervierend, um dem Zuschauer nichts anderes zu ermöglichen, als das Gefühl, dabei zu sein. Greengrass' Welt ist die Welt der Wetter-, Flugüberwachungs- und Armeezentralen, in der sich die am Morgen des 11. September eintreffenden Nachrichten nur allmählich zusammenfügen und zu einem großen Schrecken verdichten, der eigentlich so komplex ist, dass man gar nicht wirklich reagieren kann. Ratlosigkeit und Chaos dominieren. Das System funktioniert nicht wirklich.
Allenfalls in jenen kurzen Momenten, wie dem, als der US-amerikanische Flugsicherheitschef beschließt, den gesamten US-Luftraum zu schließen, ohne entsprechende Weisungen von oben abzuwarten - im Rückblick eine richtige und daher heroische Maßnahme. Auch das Militär will zuschlagen, aber "die da oben" geben offenbar keine klaren Weisungen. Der Name des in jenen Stunden bekanntlich unerreichbaren Präsidenten fällt nicht, was manche US-Berichterstatter als besonders subtile und daher kritische Kritik des Regisseurs bewerten. Es könnte allerdings auch Feigheit sein.
Die Welt, according to Greengrass, ist auch die Welt von entschlossen, aber ängstlich dreinblickenden Ausländern, die ausländisch miteinander reden und deswegen nicht zu verstehen sind. Was hier als "Realismus" daherkommt - arabische Sätze, englisch untertitelt - ist zugleich eine zwar subtile, aber überaus klare Ab- und Ausgrenzung. Kaum zu erwarten, dass der Film, wenn er in arabischen Ländern läuft, die Worte der Amerikaner umgekehrt untertitelt. Es gibt die einen und die anderen. Das Kino verschmilzt die Zuschauer zu einer Gemeinschaft derjenigen, die sich mit den Opfern identifizieren, die von jenen Anderen bedroht werden, die von Außen kommen, und deren Sprache man nicht versteht.
Koalition der Willigen in den Lüften
Die andere Seite der Welt von "United 93" ist eine, in der sympathische weiße amerikanische Individuen sitzen und an nichts Böses denkend einen normalen Linienflug antreten. Da gibt es die netten Alten, und es gibt die eine dicke Frau, die es immer gibt in solchen Filmen. "Ganz normale Menschen" - diese Behauptung quillt aus allen Bildern. Weil sich ihr Start verspätet, haben sie den anderen drei Maschinen gegenüber bald einen Informationsvorsprung. Und als sie demzufolge realisieren, dass dies ein Flug in den Tod werden wird, wissen sie nach dem ersten Schock schnell, was zu tun ist - auch hier ein bruchlos heroisches Verhalten.
Der einzige Zauderer ist - ein deutscher Passagier. Der Rest verschmilzt zur Gemeinschaft und Koalition der Willigen und tritt an zum Kampf Mann gegen Mann. Inszeniert als eine Art Dschungelkampf in den Lüften, mit behelfsweise gebastelten Waffen gegen die Messer der Täter. Entgegen der Vermutung der Untersuchungsbehörden, dass die Passagiere das Cockpit nicht stürmen können, und die Terroristen die Maschine selbst in den Boden gejagt haben, erzählt der Film dass das Eindringen ins Cockpit gelang. Wieder mal schreibt Hollywood die Geschichte um. Ein Heldentod. Mit ihrem Opfer lebt der Geist Amerikas weiter. Unter den Passagieren gibt es keine Angsthasen und keine Feiglinge, denn alle spüren, dass sie so oder so sterben müssen, und dann wollen sie es ehrenhaft tun.
Wer dies für ein realistisches Dokument hält, ist selber schuld. Der Brite Paul Greengrass - zuletzt drehte er "The Bourne Supremacy" - stammt ursprünglich nur aus der zweiten Reihe, machte nur Fernsehen und wurde dann mit dem proirischen Melodram "Bloody Sunday" bekannt, der 2002 (ex aequo mit "Spirited Away") die Berlinale gewann. Nicht wenige empfanden die Art, in der der Brite damals die schrecklichen Ereignisse den Belfaster Blutsonntag von 1971 und die Eskalation darstellte, die zum Tod mehrerer nordirischer Demonstranten führte, als ein fragwürdiges Stück politischer Demagogie, andere lobten die virtuose Kameraführung und den suggestiven Schnitt, die Greengrass' Fiktion fast dokumentarisch wirken ließen - und wie so oft ist an beiden Sichtweisen etwas dran. Daher dürften die Urteile auch über "United 93" weit auseinanderklaffen.
Die "DNA unserer Zeit"?
Für Greengrass ist die moralisch-politische Botschaft klar: Die Passagiere der UA 93, sagt er, "waren die ersten Menschen, die in der Zeit nach dem 11. September lebten. … Vierzig ganz normale Leute hatten 30 Minuten, um sich mit der Realität auseinander zu setzen, in der wir jetzt leben, und zu entscheiden, was zu tun war." Greengrass hält die Ereignisse jenes Tages allen Ernstes für die "DNA unserer Zeit". Aber Greengrass lügt jedenfalls, wo er behauptet, er zeige ein differenziertes Bild der Reaktionen der Passagiere, oder "Ihre Debatte ist unsere Debatte." Das kann schon deswegen nicht stimmen, weil die Passagiere gar nicht debattieren. Sondern sie tun, was männliche Hollywood-Helden eben tun: Was sie müssen.
Immerhin auf eine Liebesgeschichte, auf Scarlett O'Hara und Rhett Butler im Angesicht brennender Zwillingstürme, wurde diesmal noch verzichtet. Der Satz fällt trotzdem oft, in den Abschiedsworten der Passagiere, und zuvor dreimal, auf Deutsch, als der spätere Pilot unter den Terroristen, seiner Freundin letzte Worte auf den Anrufbeantworter spricht - man kennt diese Episode aus Antonia Birds britischem 9/11-Film "Hamburg Cells".
"United 93 ist nur der Beginn einer regelrechten Welle von 11-September-Filmen. Beim New Yorker Tribeca Festival vor vier Wochen hatten sechs Dokumentationen und sieben Kurzfilme zum Thema Premiere. Nach "World Trade Center" sollen 2007 dann zwei weitere Mainstreamspielfilme ins Kino kommen: "102 Minutes'', nach der berühmten "New York Times"-Reportage in Echtzeit über die Spanne zwischen dem Beginn der Angriffe und dem Einsturz des World Trade Centers. In "Reign O'er Me" wird Adam Sandler dann einen Familienvater spielen, der bei der Katastrophe Frau und Kinder verliert.
Nachdem, was bisher über all diese "Post 9/11"-Filme zu erfahren ist, sollte man allerdings keine kritische Auseinandersetzung erwarten, eher Spektakelkino, bei dem maßgeschneiderte Einzelschicksale vor austauschbaren politischen Hintergrund gestellt werden, und tapfere Amerikaner den moralischen Weltuntergang verhindern, mit Pathos, Kitsch und schaumweicher Landung - "Emotion and simplicity", wie Oliver Stone das nennt. In Hollywood, aber nicht nur dort, heißt diese Kunst der Bilder-Diplomatie auch "Human interest". Und weil die Kino-Maschine funktioniert, folgt auf den Mainstream dann gewiss auch die Satire, wie auf "Independence Day" einst "Mars Attacks!". Nach alldem möchte man zum Schluss doch mal kurz zynisch werden, und fragen, wann dann wohl die erste 9/11-Komödie gedreht wird? Sehr lang kann es jetzt nicht mehr dauern.
Die Frage, warum wir uns das anschauen müssen, beantwortet "United 93" aber nicht. Er hat nichts zu sagen. Es ist nicht wichtig, ob die Zeit reif ist, für so einen Film, denn dafür war sie schon immer reif. Noch nicht reif aber ist sie für einen Film, in dem sich die Amerikaner nicht mehr ausschließlich als Opfer und Helden sehen dürfen, in der sie selbst schlimme Dinge tun, und Täter aus ihrer Mitte stammen, ihre Sprache sprechen.