Lesekompetenz von deutschen Grundschülern: Erhebliche Mängel

Seite 2: Die übergroßen Vorteile der sozialen Herkunft in Deutschland

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Im IGLU-Vergleich zeigen sich nämlich prompt die Unterschiede, die man aus anderen Schulvergleichstests kennt: In Deutschland haben die Schüler, die aus einer Familie mit bildungsbürgerlichen oder akademischen Hintergrund kommen, weitaus größere Vorteile gegenüber Schülern, die diesen nicht haben, als in anderen Ländern:

Für keinen Teilnehmer zeigen sich im Vergleich mit Deutschland signifikant größere sozial bedingte Disparitäten in den Leseleistungen.

IGLU 2016, Pressemitteilung

Der Unterschied nahm in den letzten Jahren noch weiter zu:

Im Vergleich von 2001 zu 2016 ist in den meisten Teilnehmerstaaten und -regionen keine Veränderung von sozialen Disparitäten zu beobachten. Deutschland aber gehört neben der Slowakei, Slowenien und Ungarn zu den vier Staaten, in denen soziale Disparitäten seit 2001 signifikant zugenommen haben.

IGLU 2016, Pressemitteilung

Bei den Spitzenleistungen (Kategorie V) gab es leichte Verbesserungen von 8,6 Prozent im Jahr 2001 auf 11,1 im Jahr 2016. Generell wird die Entwicklung in Deutschland seit 2001 als stagnierend beschrieben; es hat sich nicht viel geändert - außer dass sich die Unterschiede, die eng mit dem Bildungshintergrund zuhause zusammenhängen noch verschärft haben.

Die Leistungsunterschiede im Lesetest zwischen Kindern aus günstigen und ungünstigen sozialen Lagen liegen bei etwa einem Lernjahr. Allerdings ist die Richtung der Veränderungen fast durchweg negativ, beispielsweise liegt 2016 die Lesekompetenz von Kindern aus nicht armutsgefährdeten Elternhäusern 52 Punkte über der Lesekompetenz von armutsgefährdeten Kindern. IGLU-Bericht 2016

Viele Länder haben aufgeholt und ziehen vorbei

Das Leistungsmittelwert von 2016 liegt in Deutschland um 2 Punkte höher als 2001, währenddessen jedoch viele andere, allen voran die russische Föderation, in den letzten Jahren deutlich aufgeholt haben und mit den Lesekompetenzen, die ihren Schülern attestiert wurden, an Deutschland vorbei zogen.

2001 ließen sich für lediglich vier Teilnehmerstaaten (England, Schweden, Bulgarien und die Niederlande) sowie den Benchmark-Teilnehmer Ontario, Kanada, im Vergleich zu Deutschland signifikant höhere Leistungsmittelwerte beobachten. 2016 sind es 14 Staaten und Regionen und ein Benchmark-Teilnehmer.

Im Vergleich von 2001 zu 2016 können sich Lettland, Ungarn, Litauen, die USA, Italien, Dänemark, so wie Québec, Kanada, positiv vom Leistungsmittelwert für Deutschland absetzen; in 2001 erreichten sie noch vergleichbare Leistungsmittelwerte wie Deutschland. Während sich in der Russischen Föderation, in Singapur, Taiwan und Hongkong im Jahr 2001 noch signifikant schlechtere Schülerleistungen als in Deutschland beobachten ließen, werden dort seit 2006 durchgängig signifikant bessere Leistungen erzielt.

IGLU-Bericht 2016, Pressemitteilung

Schon der lange "Beobachtungszeitraum" gibt einen Hinweis darauf, dass eine naheliegende Erklärung - die verstärkte Integration von Migranten in Schulklassen seit Ende 2015 - nicht allzu weit reicht. Das Problem ist breiter und tiefer.

Der Migrationshintergrund

Zwar haben mit einem Anteil von 19 Prozent mehr Schüler mit Migrationshintergrund an den Tests von 2016 teilgenommen - im Jahr 2001 waren es 14 Prozent. Das ist kein allzugroßer Unterschied. Der Migrantionshintergrund macht sich aber in den Ergebnissen deutlich bemerkbar:

Im Vergleich zu ihren Mitschülerinnen und Mitschülern, deren Eltern in Deutschland geboren sind, erzielen Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund Leseleistungen, die 24 (ein Elternteil im Ausland geboren) beziehungsweise 49 (beide Elternteile im Ausland geboren) Leistungspunkte geringer ausfallen, ein Unterschied, der einem Lernzuwachs von einem halben beziehungsweise einem ganzen Schuljahr entspricht

IGLU-Bericht 2016, S.22

Der Bericht macht aber auch darauf aufmerksam, dass "einige Teilnehmerstaaten und -regionen im Vergleich zu Deutschland deutlich niedrigere migrationsbezogene Disparitäten aufweisen". Andere Länder können damit also besser umgehen? Die Folgerung der Verfasser fällt vorsichtig aus: Es bleibe zu prüfen, ob dies durch in den Staaten realisierte Maßnahmen in den Bildungssystemen oder durch die jeweilige Zusammensetzung der Migrantengruppen zu erklären sei.

Liest man sich in das daran anschließende Kapitel Lehr- und Lernbedingungen ein, so könnte der Laie darüber staunen, dass die durchschnittliche Unterrichtszeit für Deutsch- bzw. Sprachunterricht in Deutschland (373 Minuten wöchentlich) signifikant unter dem Wert der OECD-Vergleichsgruppe liegt (406 Minuten) - dies in Anbetracht dessen, dass der Deutschunterricht seit Jahren so hoch bewertet wird.

Der Vergleich zum Durchschnittswert der EU-Länder fällt aber nicht so deutlich aus (384 Minuten). Um die Unterschiede zu erklären, reicht der Verweis auf die zeitliche Dauer des Sprachunterrichts nicht. Interessant wäre es einen Vergleich bei den angebotenen Fördermöglichkeiten - extra Förderstunden bei aufgeteilten Schülern, in langsamere und schnellere Leser - zu ziehen. Das wird im Bericht nicht berücksichtigt, sondern nur angedeutet.

Stärke nicht bei Sachtexten

Auffällig ist, dass die deutschen Grundschüler sich im internationalen Vergleich deutlich durch ein textimmanentes Leseverständnis auszeichneten, sie konnten auch mit literarischen Texten besser umgehen als mit den Sachtexten. Die gewohnten Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen sind zwar deutlich, doch ist die Stärke beim textimmanenten Verständnis beiden Geschlechtern gemeinsam.

Das könnte zum Nachdenken darüber anregen, welche Rolle nicht nur das Lesen, sondern auch Wissensvermittlung außerhalb der Schule beim gemeinsamen Gespräch noch spielt. Darüber hinaus darf man gespannt sein, welche Konsequenzen Bildungspolitiker aus dem Ländervergleich ziehen.