Letzte Generation: Das Märchen der Gewaltfreiheit
Seite 2: Gewalttätig sind die anderen
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Laut ihres im Internet veröffentlichten "Protestkonsens" erklären sich die Aktivisten der Letzten Generation als "absolut gewaltfrei" und im Übrigen dazu bereit, "alle staatlichen Konsequenzen in Kauf zu nehmen".
Doch es stellt sich durchaus die Frage, inwieweit die Verkehrsblockaden als (mittelbar) gewalttätig eingestuft werden können.
Und das ungeachtet der Diskussion um Krankenwagen, die nicht durch Rettungsgassen kommen, zu deren Bildung sich die LG im "Protestkonsens" ebenfalls verpflichtet – oder Schwangeren, die in den Staus feststecken. Denken Sie nur an gestörte Lieferketten, kostspielige Verspätungen oder auch den Entzug von Frei- und Regenerationszeit.
Es nimmt nicht wunder, dass Gerichte die sogenannten Klima-Kleber inzwischen bereits mehrfach wegen Nötigung nach § 240 des Strafgesetzbuchs verurteilt haben. Und wäre nicht auch der Tatbestand der Freiheitsberaubung erfüllt?
Das letzte Urteil jedenfalls ist noch nicht gefällt. Das zeigt sich an der regen Debatte, die in Fachkreisen geführt wird. Sie zirkuliert vor allem um den Punkt, dass Klima-Aktivisten nicht nach gewöhnlichen Maßstäben verurteilt werden können. Letztlich, weil ihre Aktionen einem höheren allgemeinen Zweck dienten.
So schreibt etwa der Umweltrechtler und LG-Strafverteidiger Gerd Winter Anfang Januar auf dem Verfassungsblog, die Verkehrsblockaden der LG seien "strafrechtlich undeterminiert". Will heißen: Auslegungssache. Winter schreibt:
Selbst wenn man Gewalt annähme, ist sie rechtswidrig nur, wenn ihre Ausübung zu dem angestrebten Zweck verwerflich ist. Die Verwerflichkeit wird insbesondere über eine Abwägung der Zwecke des Täters mit seinem Eingriff in die Belange der genötigten Personen bestimmt.
Gerd Winter
Winter führt in diesem Zusammenhang die Figur eines "rechtfertigenden Notstands" an, der eine "gegenwärtige Gefahr für Rechtsgüter wie Leben, Freiheit und Eigentum" darstelle und, gemäß der "inzwischen herrschenden Meinung", mit dem Klimawandel gegeben sei. Und:
Bei der Gewichtung kann berücksichtigt werden, dass die Gefährdung des Klimas auch von den Opfern der Nötigung ausgeht, weil sie Treibhausgasemissionen verursachen.
Gerd Winter
Winter bezieht sich explizit auf den sogenannten Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts, wonach künftig "selbst gravierende Freiheitseinbußen zum Schutz des Klimas verhältnismäßig und verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein" können.
Ein Beschluss, mit dem das Gericht Kritikern zufolge politische Gestaltungsabsichten bezeugte und somit den Grundsatz der Gewaltenteilung gefährdete.
Dass die Rechtssprechung nicht von politischer Färbung frei ist, offenbart sich aus Sicht des Autors auch in Winters seltsamer Behauptung, die Täter – also die LG – wollten "ja nicht aktiv Straßensperren errichten, vielmehr wird ihr passives Sitzen nur in die hinteren Verkehrsreihen weiter gereicht". Wie Winter das in Einklang mit der Forderung bringen will, Berlin "lahmlegen" zu wollen, bleibt sein Geheimnis.
Ähnlich wohlwollend argumentierte Anfang 2022 auch der Rechtsprofessor und lto-Autor Tim Wihl, wenn er sich – vermeintlich gestützt auf die Entscheidungen des BVerfG zu Sitzblockaden – darauf beruft, dass es sich nicht um Nötigung handle, sofern das Versammlungsgesetz greife. Im Falle der LG und unter der Voraussetzung eines "friedlichen Protests" sei das der Fall.
Wihl bringt die hochproblematische – und von Telepolis im Kontext der Philosophie Giorgio Agambens ausgiebig thematisierte – Figur eines "Notstands in Permanenz" an, vor deren Hintergrund es künftige Abwägungen zu treffen gelte.
Wihl, der selbst keine Berührungsängste mit aktivistischen Gruppen hat, macht kein Geheimnis daraus, zu wessen Gunsten künftige Entscheidungen seiner Meinung nach ausfallen sollten:
[D]ie Menschheit hat nur noch wenig Zeit. Ungeduldige [sic] Protestformen, die auf maximale Aufmerksamkeit zielen, werden daher an Bedeutung noch gewinnen. Eine autoritäre Verhärtung ist der Republik als Reaktion nicht zu empfehlen, selbst wenn es um das Auto und die liebe Ordnung geht.
Tim Wihl
Nicht Gandhi, nicht Martin Luther King
Im oben genannten taz-Beitrag zur Kritik von Grünen und Fridays For Future findet sich folgender Kommentar.
Wer [die] Letzte Generation als elitär und selbstgerecht beschimpft, […] erweist dem Klimaschutz einen Bärendienst. Man stelle sich vor, die Inder hätten Gandhi verurteilt, weil er sich gewaltlos gegen Ungerechtigkeit gewehrt hat. Aber klar, als Deutsche sind wir natürlich am liebsten auf der Seite der Unterdrückung und würden für Menschen wie Martin Luther King und Gandhi Präventivhaft fördern [sic], weil sie ja keine Sympathie für ihre Unterdrücker [haben].
Den Vergleich mit Gandhi und King fördert die LG aktiv durch ihre vermeintliche Verpflichtung auf die Konzepte des zivilen Ungehorsams und des passiven Widerstands. Aber wer ankündigt, die Hauptstadt mit 1.000 Straßenblockaden lahmlegen zu wollen, weigert sich nicht nur einfach, nach menschenunwürdigen Gesetzen zu handeln, sondern greift aktiv in das politische Geschehen ein. Das ist ein Unterschied.
Gandhi oder Luther King konnten nie als "Terroristen" geframet werden – und auch nicht als solche, die morgen unsere (Klima-)Helden sind. Der RAF-Vergleich hinkt grauenvoll, aus mehrerlei Gründen.
Auf den entscheidendsten hat Telepolis-User "bienenstich" im Oktober letzten Jahres aufmerksam gemacht: Während die RAF sich der Staatsmacht entgegenstellte, um (vorgeblich) für die Freiheit der Bürger zu kämpfen, stellt sich die Letzte Generation den Bürgern entgegen, um die Macht des Staats zu erweitern.
Diese seltsame Verbrüderung mit der staatlichen Autorität spiegelt sich nicht zuletzt auch in dem Anspruch wider, dort ein Entgegenkommen zu fordern, wo man protestiert. Bei Porsche wird der Schlüssel zur Toilette verlangt, beim Protest auf der Straße die Geduld der Polizei – und beim Einsatz von Gewalt der Verzicht auf Gewalt.
Der "gute", der unschuldige, der letztlich staatstragende Protest kann schließlich nicht mit gleichem Maß gemessen werden, wie der vermeintlich staatszersetzende.
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