Libanon vor dem Kollaps?
Das einstige Wohlstandszentrum des Nahen Ostens läuft Gefahr, sich in einen hungergeplagten "Failed State" zu verwandeln. Ein Kommentar
Die Ineffizienz und Widersprüchlichkeit des maroden spätkapitalistischen Wirtschaftssystems kann gerade in Krisenzeiten buchstäblich massenmörderische Folgen haben, wie das Beispiel des Libanon gerade krass illustriert. Längst geht es für viele Libanesen um das blanke, physische Überleben. Der Hunger macht sich breit in der einstigen Wohlstandsinsel des Nahen Ostens.
Wie entfaltet sich solch eine kapitalistische Hungersnot? Der Ministerpräsident des Libanon, Hassan Diab, warnte schon Ende Mai vor einer Hungerkatastrophe in seinem krisengebeutelten und auf Lebensmittelimporte angewiesenen Land, die noch vor wenigen Jahren "unvorstellbar" schien. Viele Libanesen hätten schon aufgehört, "Fleisch, Früchte und Gemüse" zu kaufen, so Diab, doch bald würden sich seine Landsleute kaum noch Brot leisten können.
Libanesische Lebensmittelimporteure berichteten, dass sie aufgrund rasch schwindender Dollar-Reserven zunehmend Probleme hätten, die notwendigen Grundnahrungsmittel auf dem Weltmarkt zu erwerben. Wenn der Trend sich fortsetze, würde es "innerhalb von zwei Monaten" nicht mehr möglich sein, auch nur das Allernotwendigste für das rasch wachsende Armenheer des Landes, das einstmals eine breite Mittelschicht aufwies, auf dem Weltmarkt einzukaufen, warnte ein Importeur Ende Mai. Man brächte rund "fünf Millionen US-Dollar täglich", um die Grundversorgung des Libanon zu decken, dies gestalte sich aber zunehmend schwieriger.
Keine Dollars? Kein Essen! Mehr als zwei Monate später kann die mörderische Wirkung der heiligen Gesetze der kapitalistischen Marktwirtschaft in dem kollabierenden Land bewundert werden: Laut Nichtregierungsorganisationen sind allein im Großraum Beirut rund 910.000 Menschen nicht mehr in der Lage, die allernotwendigsten Lebensbedürfnisse zu stillen. Hierunter befänden sich 564.000 Kinder, deren Familien sich kaum noch "Grundnahrungsmittel, Elektrizität, Kochgas, Hygieneartikel oder Trinkwasser" leisten könnten. Rund 20 Prozent der Bürger des Libanon würden bereits Mahlzeiten auslassen oder tagelang schlicht nichts essen, heißt es unter Verweis auf jüngste Umfragen. Bei den im Libanon lebenden syrischen Flüchtlingen wären es sogar 33 Prozent.
Inzwischen mehren sich Warnungen vor massenhaften Hungertoten im Libanon, vor einer Hungersnot, die das durch prekäre machtpolitische Deals zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen geprägte Land vollends politisch kollabieren ließe. Gegen Ende des Jahres könnten bis zu 75 Prozent der Bevölkerung von Lebensmittelhilfen abhängig sein, doch es sei absolut unklar, ob dann Nahrungsmittel zur Distribution zur Verfügung stünden, erklärte ein NGO-Mitarbeiter gegenüber dem britischen Telegraph: "Mit Sicherheit werden wir in ein paar Monaten ein schlimmes Szenario sehen, mit Menschen, die an Hunger sterben und an den Folgeeffekten des Hungers."
Die Kaufkraft der libanesischen Haushalte ist um 85 Prozent eingebrochen
Der Libanon befand sich bereits in einer jener Schuldenkrisen, wie sie charakteristisch für den an seinen inneren Widersprüchen zugrunde gehenden Spätkapitalismus sind, als die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung die ökonomische Lage noch zusätzlich verschärften. Seit März befindet sich das Land faktisch im Staatsbankrott.
Die Landeswährung, die offiziell fest an den US-Dollar gekoppelt ist, hat faktisch binnen eines Jahres mehr als 80 Prozent ihres Wertes eingebüßt. Diese massive Abwertung führte zu einem entsprechenden Inflationsschub für alle Lohnabhängigen im Libanon, die ihre Gehälter in Libanesischen Pfund ausgezahlt bekommen. Die Preise für Grundnahrungsmittel sind allein seit September um nahezu 170 Prozent explodiert, während die Arbeitslosigkeit auf 35 Prozent im offiziellen und auf 45 Prozent im informellen Sektor hochschnellte. Die Kaufkraft der libanesischen Haushalte ist um 85 Prozent eingebrochen.
Diese kapitalistische Katastrophe verheerte bereits das Land, bevor die gewaltige Explosion von Ammoniumnitrat einen Teil Beiruts verwüstete - und im Hafen gelagerte Lebensmittelvorräte zerstörte. Es ist inzwischen unklar, wie Nahrungsmittel in das Land geschafft werden sollen, da die Getreidespeicher im Hafen zerstört worden sind.
Mit dem Hafen sei die "Achillesverse" des Libanon getroffen worden, erklärte ein Analyst gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters, da das Land im hohe Maße auf diesen Importweg angewiesen sei. In ersten Einschätzungen des Internationalen Währungsfonds hieß es zudem, dass die für dieses Jahr prognostizierte Rezession von 12 Prozent des Bruttonlandprodukts (BIP) sich zu einem Kollaps ausweiten werde, der 20 bis 25 Prozent der Wirtschaftsleistung vernichten werde.
Dennoch halte sich die internationale Gemeinschaft auffällig zurück mit konkreten wirtschaftlichen Hilfsprogrammen für das verwüstete Land, bemerkte Reuters. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat während seiner Beirut-Visite kurz nach der Katastrophe beispielsweise klargestellt, dass der Libanon "weiterhin sinken" werde, sollten die angemahnten Reformen nicht implementiert werden. Der Internationale Währungsfonds (IWF) fordert von Beirut die Umsetzung der üblichen neoliberalen Rosskur, die schon viele Länder der Peripherie in den vergangenen Dekaden ruinierte.
Der Libanon müsse im Rahmen der Reformen den Staatshaushalt zusammenstreichen und die Staatsverschuldung rasch reduzieren, damit überhaupt wieder Gespräche mit dem IWF aufgenommen würden. Die reichen sunnitischen Golfdespotien verweigerten dem Libanon ebenfalls nennenswerte Unterstützung, da in dem ehemaligen Bürgerkriegsland die schiitische Hisbollah ein wichtiger politischer Machtfaktor ist.
Korruption ist nicht Hauptursache für den drohenden Zusammenbruch des Landes
Ähnlich dem letzten Krisenschub im Gefolge des Platzens der Schulden- und Immobilienblasen in den USA und Europa, als ideologisch verkürzt bloße Korruption und Vetternwirtschaft etwa für die Schuldenkrise in Südeuropa verantwortlich gemacht wurden, geht der Zusammenbruch des Libanon ebenfalls mit einer oberflächlichen Anklage der libanesischen Kleptokratie einher.
Das politische System des Libanon kann letztendlich als eine Form von Institutionalisierung des Waffenstillstandes nach dem Ende des Bürgerkrieges betrachtet werden. Die Verteilung der Parlamentssitze, wie auch der Regierungsämter und wichtigen Posten im Staatsapparat erfolgt gemäß eines festgelegten Proporzes zwischen den ehemaligen Bürgerkriegsparteien, was selbstverständlich der Korruption und dem Nepotismus Tor und Tür öffnet.
Dennoch kann in dem spezifisch libanesischen Filz, der nur Symptom der allgemein im Spätkapitalismus zunehmenden Korruption ist, nicht die Hauptursache für den drohenden Zusammenbruch des Landes gesehen werden - zumal viele Schwellenländer sich im gegenwärtigen Krisenschub ebenfalls in einer dramatischen Lage befinden.
Zeitgleich mit dem Kollaps des Libanon geht die türkische Währung endgültig in die Knie. Die türkische Lira verzeichnete vor rund einer Woche einen abermaligen historischen Tiefststand von 7,35 gegenüber den US-Dollar. Eine ähnliche sozioökonomische Abwärtsspirale wie im Libanon ist durchaus denkbar, wobei es sich bei der Türkei um ein europäisches Nachbarland mit 80-Millionen Einwohnern handelt.
Einer ganzen Region an der südöstlichen Flanke der EU droht der Abstieg in ein sozioökonomisches Notstandsgebiet
Das islamistische Erdogan-Regime in Ankara, das den wirtschaftlichen Niedergang mit imperialen Abenteuern und chauvinistischen Aktionen zu kompensieren trachtet, könnte sich in die Enge getrieben sehen und in weiterer imperialer Aggression Zuflucht suchen.
Hunger herrscht übrigens nicht nur im Libanon, sondern auch im verwüsteten poststaatlichen Gebilde Syrien, wo ebenfalls das Geld in seiner Eigenschaft als allgemeines Wertäquivalent entwertet wird. Die abermals verschärften US-Sanktionen, der Zusammenbruch des ökonomisch eng mit Syrien verflochtenen Libanon, der weitgehend ausbleibende Wiederaufbau und die Langzeitfolgen des Bürgerkrieges haben die Zahl der Menschen, die unter "Nahrungsmittelunsicherheit" in Syrien leiden, binnen der letzten sechs Monate von 7,9 Millionen auf 9.3 Millionen anschwellen lassen. Einer ganzen Region an der südöstlichen Flanke der EU droht der Abstieg in ein sozioökonomisches Notstandsgebiet.
Der Kapitalismus ist gut, nur der Mensch ist böse
Die Klage über die "Korruption" im Libanon bildet somit ein durchsichtiges ideologisches Manöver, um von den systemischen Ursachen der zunehmenden Krisenanfälligkeit des spätkapitalistischen Weltsystems abzulenken. Die kapitalistische Hungerkrise muss somit als Folge von persönlichen oder kollektiven Fehlverhalten dargestellt werden, damit nicht grundlegende Fragen aufkommen - etwa wieso massenhafter Hunger und gigantische Lebensmittelvernichtung in der kapitalistischen Misswirtschaft so prächtig harmonieren können.
Zumal die Kritik an Korruption und Vetternwirtschaft in Beirut sich gerade in Deutschland - dem Land des NSU 2.0, des BER und von Stuttgart 21 - arg merkwürdig ausnimmt.
Der Kapitalismus ist gut, nur der Mensch ist böse - auf diesen Nenner lässt sich das apologetische Narrativ bringen, das in Reaktion auf den drohenden Kollaps des Libanon in der Öffentlichkeit aufkommt. Dabei zeigt der katastrophale Krisenverlauf im Libanon, der sich zu einem neuen gescheiterten Staat nach libyschem Muster zu entwickeln droht, wie gefährlich der gegenwärtige Krisenschub ist - und dies nicht nur in politischer Hinsicht.
Das marode spätkapitalistische Weltsystem hat ein gigantisches Vernichtungspotenzial akkumuliert, das im drohenden sozialen Zusammenbruch freigesetzt werden könnte. Es müssen nicht unbedingt marode Atommeiler oder schmutzige Bomben sein, die ganze Länder samt ihren verwildernden Staatsapparaten destabilisieren können. Die Menschheit sitzt auf einem morschen Pulverfass - eine notwendige Systemtransformation müsste folglich einer Bombenentschärfung gleichen.