Liberaler Realitätsverlust

Kernkraftwerk Neckarwestheim. Bild: qwesy qwesy/CC BY 3.0

Energie und Klima – kompakt: Waldbrände in Sibirien, Belohnung für Kraftstoffverbrauch, Atomstrom für den Export und die Bedrohung Irlands durch eine russische Invasion

Multimilliardär Elon Musk ist mal wieder in aller Munde. Diesmal nicht wegen seiner geldverbrennenden Raketenmanie, seiner wassersaufenden Megafabrik bei Berlin oder seiner Geringschätzung von Arbeiterrechten und Gewerkschaften, sondern wegen der Übernahme von Twitter.

Was ist davon zu halten, wenn ein über alle Maßen reicher und damit mächtiger Privatmann einen der wichtigsten internationalen Medienkonzerne kontrolliert? Musk ist nicht der Erste, der dies versucht, und Beispiele wie Rupert Murdoch, Axel und Friedel Springer oder Mark Zuckerberg lassen wenig Gutes erwarten.

Twitter ist bisher für viele Klimawissenschaftler und in jüngerer Zeit auch für die Klimaschutzbewegung ein wichtiges Kommunikationsmittel, über das Netzwerke gepflegt, Informationen ausgetauscht und auch Journalisten angesprochen werden.

Entsprechend machen sich einige nun Sorgen, ob das so bleiben wird. Zeit also, nach Alternativen zu suchen?

36 Jahre Tschernobyl

Am gestrigen Dienstag hat sich der große Reaktorunfall im ukrainischen Tschernobyl – seinerzeit noch Teil der Sowjetunion – zum 36. Male gejährt. Wir hatten vor einigen Tagen bereits auf das Jubiläum hingewiesen und Umweltorganisationen zitiert, die vor einer Wiederbelebung der Atomkraft warnen.

Das Bundesamt für Strahlenschutz hat hier den Hergang des folgenschweren Unfalls in der Nähe Kiews zusammengefasst. Im September 2021 hatten seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gemeinsam mit anderen die Sperrzone um das Reaktorgelände radiologisch neu vermessen, um die Verteilung der Strahlenbelastung zu dokumentieren. Die Ergebnisse wurden dieser Tage hier veröffentlicht.

Heraus gekommen ist unter anderem, dass die Radioaktivität in der Sperrzone sehr unterschiedlich verteilt ist. Es gibt Bereiche, in denen sich die Strahlung nicht von der in Deutschland üblichen Hintergrundstrahlung unterscheidet und andere, in denen ein achtstündiger Aufenthalt reicht, um die hierzulande zulässige Jahresbelastung für Mitarbeiter von AKW zu erreichen.

Die Karten mit den Messergebnissen zeigen, dass das radioaktive Material hauptsächlich nach Norden und nach Westen verweht wurde. Wie 25 Jahre später im japanischen Fukushima ist die Verteilung von den zur Unfallzeit vorherrschenden Winden abhängig gewesen, was zu langen Fahnen besonders stark kontaminierter Zonen geführt hat.

FDP will Laufzeitverlängerung

Einige haben allerdings die Botschaft von Tschernobyl und Fukushima noch immer nicht verstanden. Ganz nach den Träumen des Teslar-Milliardärs hat die FDP auf ihrem Parteitag am vergangenen Wochenende gefordert, dass "kurzfristig die Laufzeiten der verbliebenen deutschen Kernkraftwerke um mindestens ein Jahr verlängert werden, um insbesondere im Winter 2022/23 keine Stromausfälle zu riskieren".

(Nebenbei bemerkt haben die Liberalen sich im gleichen Antrag auch dafür ausgesprochen, mit Irland, Armenien und andere Verhandlungen über eine Nato-Mitgliedschaft aufzunehmen, "damit nicht auch ihnen demnächst dasselbe Schicksal wie der Ukraine droht". Irland... Armenien sieht sich gerade einem vom Nato-Mitglied Türkei unterstützten Angriff Aserbaidschans ausgesetzt.)

Tatsächlich ist der Beitrag der verbliebenen drei deutschen Atomkraftwerke (Isar 2, Neckarwestheim 2 und Emsland) eher klein und die Betreiber zeigen wenig Interesse an einer Verlängerung. Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass sie seit Jahren für die Stilllegung zum Jahresende 2022 planen und entsprechend keine Lieferverträge für neue Brennstäbe abgeschlossen haben. Für das bayerische Atomkraftwerk Isar 2 hat Betreiber E.on Mitte April auf jeden Fall eine Verlängerung der Laufzeit ausgeschlossen. Die Entscheidung sei gefallen.

Die bayerische Landesregierung will es zwar noch immer nicht wahrhaben und drängelt weiter, aber 2022 haben die drei AKW bisher nicht einmal sieben Prozent zur deutschen Nettostromerzeugung beigetragen.

Damit waren gerade einmal zwei Drittel des Nettoexports abgedeckt. Oder mit anderen Worten: Die deutschen AKW arbeiten ausschließlich für den Stromexport.

Die Zahlen zeigen, dass es bei der Debatte weniger um Fragen der Versorgungssicherheit als um die altbekannte Abwehrhaltung gegen den Umbau der Energieversorgung und den Ausbau der erneuerbaren Energieträger geht, die inzwischen bereits gut die Hälfte des Stroms liefern.

Laufzeitverlängerung würde übrigens auch bedeuten, dass noch mehr hochradioaktiver Atommüll produziert wird. Dessen sichere Endlagerung war vor mehr als 40 Jahren als Voraussetzung für den AKW-Betrieb versprochen worden, doch ein Endlager gibt es immer noch nicht und wurde von der Münchner Landesregierung für den Freistaat bisher abgelehnt.

Aber vielleicht muss erst noch in Westeuropa ein Atomkraftwerk in die Luft fliegen, bevor auch jene die japanische und kyrillische Schrift an der Wand erkennen, die derzeit noch die russische Marine mit Landungsbooten vor der irischen Küste wähnen.

Ein guter Kandidat wäre dafür Frankreichs Uralt-Reaktor Cattenom, an dem kürzlich Risse entdeckt wurden. Da der Meiler unweit der östlichen Landesgrenze in Lothringen steht, macht man sich im benachbarten Luxemburg gewisse Sorgen.