Libyen: Ohnmacht und Angst der EU vor "Krieg" und Flucht
Der unter Druck geratene libysche Regierungschef Serradsch bringt 800.000 mögliche Migranten in die Diskussion
Die UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR schätzt die Zahl der Binnenflüchtlinge in Libyen auf 34.000 Personen. Vor knapp einer Woche, am 17. April, nannte die Schätzung noch 25.000 Personen - mit einem deutlichen Bezug auf Kämpfe, die auch Wohnviertel im Großraum Tripolis in Mitleidenschaft ziehen. Am Ende der Kurzmitteilung stand der Appell, den "Konflikt zu beenden und Kriegsregeln zu beachten".
Der Appell dürfte sich wie auch andere Aufrufe, der militärischen Auseinandersetzung mit einer politischen Lösung beizukommen, kaum gegen die Wirklichkeit in Libyen behaupten. Die Kämpfe zwischen der LNA, einem Verbund von Resten der libyschen Armee mit anderen Milizen unter Leitung des Feldmarschalls Khalifa Haftar, und einem Milizenbündnis der Einheitsregierung (GNA), die weitestgehend nur nominell dem international anerkannten Ministerpräsidenten Serradsch (oft auch: Sarradsch, auch Sarraj oder Serraj geschrieben) untersteht, sind wahrscheinlich erstmal nicht über Verhandlungen zu lösen.
"Ohne Marschall Haftar geht nichts mehr", schreibt der Libyen-Kenner Wolfgang Pusztai (vgl. das Interview an dieser Stelle: Libyen: Wie kann es nach Gaddafi wieder besser werden?) in der Zeit. Dort legt er kurz und bündig dar, dass die bisherigen politischen Versuche, hauptsächlich geführt von der UN, Libyen auf einen Kurs Richtung mehr Stabilität zu führen, gescheitert sind, weil sie einen wesentlichen Mangel hatten: Ihnen fehlte der Rückhalt in der Bevölkerung. Darauf wurde nicht geachtet.
Die Regierung in Tripolis mag international anerkannt sein. Aber sie wird von den Milizen der Stadt beherrscht, unter ihnen radikale Islamisten und Kriminelle. Die meisten Menschen im Osten wollen einer solchen Regierung nicht unterstellt sein.
Jetzt verteidigen die Milizen von Tripolis, zusammen mit den mächtigen Milizen aus Misrata, die Hauptstadt. Unterstützt werden sie von weiteren bewaffneten Gruppen mit zweifelhaftem Ruf.
Wolfgang Pusztai
Nun gibt es, wie auch hier schon vorgestellt, eine ganze Menge von Argumenten, die den zweifelhaften Ruf auch der LNA-Milizen im Fokus haben, so wie es genügend Gründe gibt, auf Distanz zu deren Oberbefehlshaber Feldmarschall Haftar zu gehen (siehe dazu etwa die Ausführungen von Jalel Harchaoui oder Emad Badi).
Aber wie so oft in Konflikten der jüngeren Zeit ist keine wirklich gute politische Lösung nach gerechten Maßgaben in Sicht. Interessant an den Szenarien, die der erwähnte Libyen-Experte Pusztai für die nächste Zukunft in Libyen aufstellt, ist, dass die Einheitsregierung zwar möglicherweise überleben kann, aber auf keinen Fall in einer stärkeren Position.
Mit dieser Einschätzung wird Pusztai nicht alleine stehen. Der Rückhalt, den der gegenwärtige, von der UN erst ins Amt gehobene Regierungschef Serradsch hat, kommt vor allem von außen - und er ist meist geteilt: Auch seine Unterstützer in Rom stehen in Verbindung mit Haftar. Die Beziehung wurde in den letzten Jahren ausgebaut.
Europa und die Vereinten Nationen müssten einen völlig neuen Ansatz zur Stabilisierung dieses für Europa sehr wichtigen Landes finden, schreibt Pusztai. Wie der aussehen soll, ist - bis auf die Tatsache, dass Haftar besser eingebunden werden sollte - , unbestimmt. Auf solche schwierigen Fragen hat auch der österreichische Libyenkenner keine Antwort. Er macht auf Möglichkeiten aufmerksam. Dass die EU Einfluss hat, den sie nutzen könnte. Vor allem weil die EU über die Migration großes Interesse an einer Verbesserung der Verhältnisse in Libyen habe.
Anders als zuletzt gehörte Stimmen wiegelt Pusztai, was die Migration angeht, allerdings ab, er bleibt auf dem Boden. Auch bei diesem Punkt deutet er Richtung Haftar.
Für Europa werden diese Entwicklungen (in Libyen, Anm. d. A.) auf jeden Fall Auswirkungen haben, auch wenn nicht damit zu rechnen ist, dass durch die Gewalt neue große Migrationsbewegungen ausgelöst werden. (…) Unabhängig davon, wie sich die Kämpfe weiterentwickeln: Es ist sehr wahrscheinlich, dass Haftar künftig auch in der Migrationsfrage eine wichtige Rolle spielen wird. Er beherrscht mittlerweile nicht nur die Südgrenze und die Schleuserrouten durchs Land, sondern auch zumindest einen Teil der Abfahrtplätze an der Küste. Daher werden Länder wie Italien früher oder später wieder mit ihm reden müssen.
Wolfgang Pusztai
Der internationale anerkannte libysche Ministerpräsident Fajez al-Serradsch hatte kürzlich eine ganz andere Position markiert. Er sprach von "800.000 Migranten", die potentiell zum Verlassen Libyens bereit wären. Die Aussage erinnert von Ferne an die Warnungen des früheren Machthabers Gaddafi, der damit drohte, dass Millionen nach Europa kommen würden, wenn er nicht mehr die Zügel in der Hand hat. Die Absicht ist klar, Serradsch braucht Unterstützung, er konfrontiert die EU mit dem, was deren Libyenpolitik hauptsächlich ausmacht: die Angst vor dem nächsten "Migrationsdruck".
Stimmt, was die italienische Zeitung La Stampa am Dienstag berichtete, so gibt es wieder einmal eine ziemliche Kluft in den unterschiedlichen Einschätzung darüber, wie viele aus Libyen flüchten könnten. Im Zeitungsbericht werden der von Serradsch ins Spiel gebrachten Zahl von 800.000 möglichen Migranten lediglich 6.000, die auswandern wollen, gegenübergestellt. Die Zahl gehe angeblich auf Einschätzungen der italienischen Geheimdienste zurück.
Dem fügt die Zeitung eine "realistische Schätzung" hinzu, deren Quelle nicht genannt wird:
Die realistischste Gesamtschätzung, die vor Ort vorgenommen wurde, besagt stattdessen, dass es entlang der gesamten libyschen Küste etwa hunderttausend Menschen gibt, die praktisch mit den Füßen im Wasser stehen.
La Stampa
Beachtlich ist ein anderer Punkt im Bericht: Für die italienische Regierung, so die Zeitung, sei es wichtig, dass der Konflikt in Libyen nicht offiziell von der UN als "Krieg" bezeichnet werde. Das würde vieles ändern, dann würde es nämlich sehr viel schwieriger, Migranten nicht mehr in Italien anlanden zu lassen.
Migrationsexperten, die sich mit der Situation in Libyen befassen, sind indessen davon überzeugt, dass hier gar keine einfachen Kalküle aufzumachen sind. Die Unsicherheit in Libyen führe nicht unbedingt zu mehr Flüchtlingen. So einfach sind die Rechnungen nicht.