Libyen: Protest gegen EU-finanzierte Foltergefängnisse

Britischer Ex-Entwicklungsminister Andrew Mitchell mit Migranten in einem Transitlager in der Nähe der tunesischen Grenze zu Libyen, 2011. Bild: DFID, CC BY 2.0

Die verheerende Menschenrechtslage in dem Kriegsland ist bekannt. Über die Rolle der EU wird weniger gesprochen. Warum eigentlich?

Dass tausende Migranten nach oder vor Versuchen, über das Mittelmeer in die EU zu gelangen, von libyschen Sicherheitskräften in menschenunwürdigen Lagern festgehalten werden, wo ihnen Hunger, Folter und Vergewaltigung sowie Ausbeutung als Sex- oder Arbeitssklaven widerfährt, ist zumindest in der europäischen Zivilgesellschaft im kollektiven Bewusstsein angekommen.

Auch, dass die EU durch finanzielle und materielle Hilfen dieses Migrationsabwehr- und Abschreckungsregime unterstützt.

Den Protesten von Migranten und Migrantinnen gegen ihre Lebensbedingungen in Libyen und fehlende internationale Hilfen aber schlägt dröhnendes Schweigen entgegen.

Zwar veröffentlichten Organisationen wie Pro Asyl, Seebrücke und Medico international Presseerklärungen in Solidarität mit den Protestierenden. Als einzige deutschsprachige Zeitungen berichteten jedoch nur die linken Nischenblätter Neues Deutschland (nd) mit einer ganzen Reihe von Artikeln und Analyse & Kritik (ak), die einen Aktivisten vor Ort interviewte.

Der blinde Fleck in der Berichterstattung wird unangenehm auffällig, wenn man die Zahl der Inhaftierten betrachtet, die mehrfach in die Hunderte geht – Zahlen, die zum Beispiel in Belarus zu einer umfangreichen Berichterstattung in allen deutschen Medien führten.

So wurden allein in der Räumung einer Sitzblockade vor dem UNHCR im Januar rund 600 Personen festgenommen. Es gab auch Tote. Doch die Verantwortlichen sind Kooperationspartner der EU, nicht Putins.

Nachdem libysche Behörden am 1. und 2. Oktober 2021 in einer groß angelegten Offensive rund 4.000 Migrant:nnen aus ihren angemieteten Wohnungen im tripolitanischen Stadtteil Gargaresh holten, auf LKWs packten und in Internierungs- (bzw. Arbeits-) Lager brachten, gab es einen Aufstand in dem überfüllten Sammelzentrum Al-Mabani.

Die zusammengepferchten und hungernden Menschen rissen Zäune und Tore ein und strömten auf die Straße. Wie auch zuvor bei der Razzia in Gargaresh schossen die libyschen Milizionäre auf die Flüchtenden und töteten dabei einige der Protestteilnehmer.

Hunderte versklavt, einige getötet

Die obdachlosen und verängstigten Migrant:innen begannen daraufhin vor der lokalen Niederlassung des Hochkommissariats der Vereinten Nationen für Geflüchtete (UNHCR) im Stadtteil Al-Serradsch zu campen. Sie forderten von der Agentur der Vereinten Nationen und generell der internationalen Gemeinschaft die Wahrung ihrer Rechte, Legalisierung oder Evakuierung in ein sicheres Land.

Doch auch hiergegen gingen die libyschen Autoritäten vor. Ein junger Sudanese wurde im Oktober vor dem Community Day Center des UNHCR erschossen und am 10. Januar, bei der Räumung der Sitzblockade vor dem UNHCR, dann wieder 600 Personen in Internierungslager abtransportiert.

Der UNHCR selbst nahm jedoch nicht einmal den Forderungskatalog der Protestierenden entgegen, sondern warf ihnen vor, von ihnen bei der Hilfe von hilfsbedürftigen Geflüchteten behindert worden zu sein – ein Vorwurf der von den Protestierenden und anwesenden Journalisten dementiert wurde.

Die Forderung nach Evakuierung von Migranten, von denen sich viele schon seit Jahren in Libyen aufhalten und aus Bürgerkriegsländern und Ländern mit unterirdischen Menschenrechtsbilanzen wie dem Sudan, Süd-Sudan, Somalia und Nigeria kommen, spricht Bände über die sich verschlimmernde Repression und Lebensbedingungen in Libyen. Auch scheint die Akzeptanz der Migrant:innen unter der libyschen Bevölkerung abzunehmen.

Mehrere Autoren mutmaßten, dass der libysche Premierminister Dbaiba mit der als Aktion gegen kriminelle Banden bezeichneten Räumung Gargareshs im Oktober Ressentiments gegen Migranten in der Bevölkerung nutzen wollte, um seine Popularität vor der auf Weihnachten 2021 angesetzten Wahl zu steigern. Diese wurde dann aber abgesagt.

Selbstorganisierte freiwillige Helfer, die die Obdachlosen mit Lebensmitteln und Medikamenten versorgten, berichteten zudem über Drohungen von Seiten der Milizen, welche der Regierung unterstehenden.

Seit 2014 sind 23.000 Menschen im Mittelmeer ertrunken

Vor dem Angriff und Regime-Change der Nato-Staaten USA, Frankreich und Großbritannien, der den langjährigen Herrscher Muammar al-Gaddafi absetzte und die seitdem andauernde Bürgerkriegssituation einleitete, lebten zeitweise bis zu einer Million Migrant*innen in Libyen, das bis dahin den höchsten Lebensstandard in Afrika vorweisen konnte.

Heute führt das UNHCR noch über 45.000 registrierte Geflüchtete in Libyen in ihrer Kartei. Viele machten sich seit der Invasion vor elf Jahren auf und wagten die lebensgefährliche Reise im Schlauchboot über das Mittelmeer. Seit 2014 ertranken im Mittelmeer nach Schätzungen der (durchaus regierungsnahen) Internationalen Organisation für Migration (IOM) knapp 23.000 Menschen. Im Jahr 2021 stieg die Zahl zum ersten Mal wieder seit 2016.

Sicher auch, weil das Überqueren der EU-Außengrenzen durch verstärkte Kooperation mit den libyschen Behörden und durch technologisierte Seeüberwachung immer schwerer wird, gewinnen die vom UNHCR durchgeführten Evakuierungsflüge an Bedeutung für die Migrant:innen. Jedoch waren diese nun über ein Jahr ausgesetzt, da die libyschen Behörden diese, vorgeblich wegen der pandemischen Lage, verboten hatte.

Unter Umständen ist es als erster Erfolg der protestierenden Geflüchteten zu verbuchen, dass die bürokratischen Apparate die Evakuierungsflüge nun wieder ermöglichten und im November 2021 wieder 172 Schutzbedürftige aus Libyen in den Niger und sogar 93 nach Italien evakuiert wurden.

Doch für viele der nun obdachlosen, aus Gargaresh Vertriebenen sind solche Evakuierungsflüge derzeit keine Option, da die Milizen ihnen bei der Räumung, neben Geld und Wertgegenständen wie Handys auch die Papiere abnahmen.

"Wir sind in Libyen ein Geschäftsmodell"

Die massenhaften Festnahmen von Migranten durch die libyschen Milizen führt der in der ak interviewte Yambio David vor Allem auf Gewinninteressen zurück. "Wir sind in Libyen ein Geschäftsmodell," meint er. Neben der Ausbeutung ihrer Arbeitskraft durch unbezahlte Zwangsarbeit sei auch die Erpressung von Lösegeld von Angehörigen sehr lukrativ. Dazu kommt die sexuelle Ausbeutung der Frauen.

In dem Zusammenhang kritisiert David auch und besonders die Kooperation der EU mit den libyschen Milizen: "Die europäischen Behörden finanzieren die Haftanstalten mit.

Die Gelder sollen eigentlich die Situation für die Inhaftierten verbessern, stattdessen gehen sie aber an die Milizen, die die Zentren verwalten." Er vermutet auch, dass der Botschafter der Europäischen Union, José Sabadell, mit seiner Äußerung während des Protests vor dem UNHCR, die libyschen Behörden sollen die Sicherheit garantieren, letztendlich grünes Licht für die gewaltsame Räumung der Demonstranten gab.

Die EU mitverantwortlich für Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

Internationale Menschenrechtsbeobachter und Nichtregierungsorganisationen (NRO) kritisieren die EU schon seit Längerem für die Kooperation mit den Milizen und der sogenannten libyschen Küstenwache und werfen ihr eine Mitverantwortung für die katastrophale Situation der Geflüchteten in Libyen vor.

Als 2017 Berichte und Bilder von Sklavenmärkten in Libyen um die Welt gingen – man erinnere sich beispielsweise an drei im Set angebotene, mit einer Halsgeige aneinandergefesselte afrikanische Mädchen – kritisierte Amnesty International:

Trotz der bekannten schweren Menschenrechtsverletzungen unterstützt die EU eine Küstenwache, die Menschen wieder in eine Hölle aus Gewalt, Misshandlungen und Vergewaltigungen zurückbringt.

Im November 2021 reichte ein Konsortium aus den NROs European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), die Internationale Föderation für Menschenrechte (FIDH) und Lawyers for Justice in Libya (LFJL) eine Mitteilung und einen Bericht mit ausführlichen Interviews von Betroffenen beim Internationalen Strafgerichtshof (IstGH) ein, und fordern diesen auf, tätig zu werden.

Obwohl der IstGH seit zehn Jahren ermittelt, wurde bisher noch keine Klage erhoben. Die leitende Rechtsberaterin des ECCHR, Chantal Meloni, bedauert: "Trotz der nachdrücklichen Aufforderung des ehemaligen IStGH-Anklägers, endlich gegen die Straflosigkeit in Libyen vorzugehen, gehen die Verbrechen weiter." Sie fordert den derzeitigen Ankläger, Karim Khan, auf, "endlich die notwendigen Schritte zu unternehmen, um die Täter vor Gericht zu stellen."

Sie sei überzeugt, "dass nur der IStGH die Komplexität des kriminellen Systems angehen kann, das darauf abzielt, das menschliche Leid der Migranten und Flüchtlinge in Libyen auszunutzen."

Dass die Behandlung der Migrant:innen in Libyen wahrscheinlich Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen, ist auch die Schlussfolgerung einer Untersuchung des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen, die dieser in seinem Länderbericht 2021 veröffentlichte.

Am 20. Januar 2022 erhoben zudem dänische, französische und italienische NROs Klage gegen Italien und Malta, die beschuldigt werden, sie hätten "bei der Bergung von Migranten koordiniert mit der libyschen Küstenwache gehandelt, um sicherzustellen, dass sie abgefangen und nach Libyen zurückgebracht werden".

Der maltesische Gesandte des Büros des Premierministers, Neville Gafà, gab in einer behördlichen Untersuchung auch zu, "dass er von der maltesischen Regierung gebeten wurde, einen Pushback der Boote nach Libyen zu koordinieren."

Millionen für eine Briefkastenfirma?

Die europäische Grenzschutzagentur Frontex ist ebenso seit Längerem in solche Pushbacks involviert, wie Whatsapp-Nachrichtenverläufe zwischen der EU-Behörde und der sogenannten libyschen Küstenwache belegen.

Durch Aufklärungsflüge mit Drohnen und Überwachungsflugzeugen identifiziert Frontex die Gummi- oder Holzboote der Geflüchteten, bevor diese internationale Gewässer erreichen und meldet dies an die libysche Küstenwache.

Zuvor hatte die EU 46 Millionen Euro dafür ausgegeben, dass die libyschen Behörden eine Leitstelle für Seenotrettung einrichten und bei der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation eine Seenotrettungszone anmelden.

Diese wird nun von Frontex als "international anerkannt und zuständig" angesehen, und das, obwohl diese wahrscheinlich nur auf dem Papier existent ist – immerhin wissen weder die Europäische Kommission noch der Europäische Rat überhaupt, wo sich diese Leitstelle für Seenotrettung befindet. Zudem erfüllt die Leitstelle, wie Matthias Monroy es in Netzpolitik beschreibt, nicht die zwingenden Anforderungen für eine solche Leitstelle.

Weder ist [sie] Tag und Nacht erreichbar, die dort abgestellten Mitarbeiter sprechen mitunter kein Englisch, auch verfügen die Behörden nicht über die nötigen Ambulanzfahrzeuge oder Krankenhausplätze für einen Seenotfall.

Internationales Recht muss gelten!

Zudem ist es eigentlich durch die Genfer Konvention verboten – und dies wurde in einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im sogenannten "Fall Hirsi" bestätigt – Geflüchtete in Länder zurückzubringen, aus denen sie geflohen sind und in denen ihnen Verfolgung droht.

Dass dies in Libyen der Fall ist, ist jedoch schon lange offensichtlich. Organisierte Pullbacks durch die libysche Küstenwache sind für die EU somit eigentlich genauso illegal wie selbst-durchgeführte Pushbacks.

Die Forderungen der protestierenden Migrant:innen in Libyen decken sich somit komplett mit den Forderungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und internationalem Recht. Doch scheinbar haben es die EU-Institutionen und nationalen Regierungen nicht gerade eilig, dem Richtspruch und Recht zu folgen und die Hölle in Libyen zu beenden – oder zumindest die Flucht daraus zuzulassen.

Entschieden sind demgegenüber die protestierenden Migrant:innen auf Tripolis Straßen. Auf die Frage nach der Räumung im Januar, ob der Protest nun vorbei sei, antwortete Yambio David der ak: "Ich kann euch versichern: Wir fangen gerade erst an."

Auf ihrem Twitter-Profil Refugees in Libya dokumentierten die Aktivisten seitdem erneute Repression und Massenfestnahmen. Zum Zuckerfest am 3. Mai 2022, dem Festtag zum Ende des Ramadans, wurden die Migranten von der offiziellen Feier auf dem Platz der Märtyrer vertrieben. Hunderte wurden wieder in die berüchtigten Internierungslager gebracht.