Libyen: Vom Fluch der Milizenherrschaft

Feldmarschall Haftar. Screenshot eines Videos/YouTube

Die Folgen von medial gut, aber politisch schlecht vorbereiteten Interventionen gegen "blutrünstige Diktatoren": Die internationale Gemeinschaft hofft auf den nächsten starken Mann

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Feldmarschall Haftar, der starke Mann in Libyen, von dem sich einige Regierungen erhoffen, das er dem gescheiterten Staat zu einer stabileren Ordnung verhelfen kann, liegt nach Informationen von Le Monde in einem Krankenhaus in Frankreich.

Angeblich hat er einen Schlaganfall erlitten und wurde in aller Eile von der jordanischen Hauptstadt Amman nach Paris gebracht, meldet die französische Zeitung, die sich auf "mehrere Quellen" stützt. Auch der Guardian meldete gestern die Einlieferung Haftars in eine Klinik in Paris aufgrund eines schweren Schlaganfalls des 74-Jährigen.

Die britische Zeitung beruft sich dabei auf französische Quellen, u.a. Le Monde. Aus der englisch-sprachigen Meldung ist herauszulesen, dass Haftar seit Anfang des Monats, also seit mehreren Tagen schon, in der Klinik ist, was nahelegt, dass es sich nicht um einen unbedeutenden Vorfall handelt.

Allerdings soll sich der Oberbefehlshaber der sogenannten libyschen Nationalarmee, die genau betrachtet, lediglich ein Bündnis aus Milizen und Restbeständen der früheren Armee zu Zeiten Gaddafis und Milizen bildet, mittlerweile auf dem Weg der Besserung befinden.

Haftars Umgebung spricht von Fake-News

Die Krankenhaus-Meldung ist von politischer Bedeutung. Das zeigt sich allein schon an den intensiven Bemühungen der Umgebung des Feldmarschalls. Seine Entourage widerspricht heftig Das sei eine Fake-News, so die Reaktion von Khalifa al-Obeidi, die der Guardian vom Sprecher der LNA übermittelt. Die Fake News sei von Gegnern Haftars in die Welt gesetzt worden, um ihm zu schaden, so al-Obeidi.

Man hätte dem auch mit einem Foto begegnen können, das einen gesunden Haftar zeigt. Das hat man aber nicht getan. Warum? Ansonsten zeigt sich das Gefolge von Hafter nicht gerade foto- oder bilderscheu. So hat etwa seine Medienagentur bereits mehrere Video-Clips mit ihm gedreht. Man kann jedenfalls nicht behaupten, dass Hafter, dem als Titel stets entweder der Feldmarschall oder ein General beigegeben wird, nicht gerne fotografiert wird.

Ein anderer LNA-Sprecher namens Ahmed al-Mismari wollte sich laut Reuters bei einer Pressekonferenz überhaupt nicht zu den Berichten der Erkrankung Haftars äußern. Der Reuters-Artikel gibt zwei unterschiedliche Versionen zur Sache von ungenannten Quellen wieder, aber zitiert auch einen LNA-nahen TV-Kanal, der den Krankenhausaufenthalt Haftars in Paris zwar bestätigt, aber einer ernsthafte Gefahr für die Gesundheit des Generals widerspricht.

Wie unstimmig und dünnbödig die Informationen aus Libyen sind, ist schon an kleinsten Details zu sehen: Im Le Monde-Bericht ist Haftar 74 Jahre alt, bei Reuters ist er ein Jahr älter, 75. Al-Jazeera gibt das Alter Haftars ebenfalls mit 75 Jahren an.

Dem Bericht des katarischen Mediums nach, das ganz im Gegensatz zu Haftar die Muslimbrüder unterstützt, soll der entschiedene Gegner der Muslimbrüder in Libyen zwischenzeitlich sogar in ein Koma gefallen sein - was die Annahme erhärtet, dass politische Opponenten Haftars die Krankheitsgeschichte tatsächlich gerne ausbeuten.

Wichtig auch für den libyschen Regierungschef

Etwas abgeklärter sind die Informationen des französischen Journalisten Vincent Hugeux, auf den sich al-Jazeera zunächst stützte. Hugeux bekräftigt in seinem Bericht im L’Express, der gestern Abend erschien, zwar, dass Khalifa Haftar am 5. April in ein Krankenhaus in Paris eingeliefert wurde, aber er relativiert die Ernsthaftigkeit der Situation.

Haftar sei in keiner kritischen Gefahr gewesen, so die Quellen Hugeux‘, darunter ein Mitglied des nächsten Umkreises des libyschen Regierungsschefs Serradsch sowie ein hochrangiger Diplomat.

An diesem Info-, Dementi- und Gerüchepotpourri über die Erkrankung des Generals ist abzulesen, wie wichtig die Figur Haftar für Libyen geworden ist. Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate und Frankreich unterstützen ihn offen, Russland und die USA mit etwas Abstand, aber auch Italien, das in Libyen vor allem Haftars politischen Konkurrenten Serradsch (auch Serraji) unterstützt, hat ihn schon zu Gesprächen nach Rom eingeladen. Auch von Seiten der UN hieß es vor einiger Zeit, dass Haftar eine Rolle im neuen, besseren Libyen spielen solle.

Laut Vincent Hugeux sei auch Serraji und seine Umgebung sichtlich erleichtert darüber, dass Haftar, so wie es aussieht, nicht ernsthaft erkrankt ist. Beide politischen Führer bräuchten einander, so der L’Express-Autor. Serradsch sei für die Regierung der bessere Mann, brauche aber Haftar als Garant für die militärische Absicherung der Macht. Ob Haftar das auch so sieht, ist allerdings unklar. Der Oberbefehlshaber will bei den Wahlen kandidieren; er würde selbst gerne die politische Führung übernehmen.

Ob die Wahlen, wie angekündigt, tatsächlich dieses Jahr, stattfinden können, ist wie so vieles im failed state ungewiss. Wie schlimm die Zustände sind, ist einem Ohcr/Unismil-Bericht zu entnehmen, der die Dimension des Horrors in den Haftanstalten zum Thema hat (Zusammenfassung hier).

Wie Milizen das Leben in Libyen zur Hölle machen

Dass Menschen dort verschwinden, dass dort geprügelt, gefoltert und getötet wird, rechtsstaatliche Mindestansprüche wie anwaltschaftliche Vertretung, Anhörung des oder der Gefangenen nicht gelten, ist an sich nichts Neues, darüber wurde schon öfter berichtet. Die UN-Institutionen hatten, wie sich im Bericht zeigt, Mühe, sich ein absolut aktuelles und präzises Bild zu machen.

Ihre Schätzung von 6.500 Insassen in diversen Haftanstalten hat Lücken, wie im Bericht zu lesen ist, und sie datiert vom Oktober 2017. Dass sich darunter auch Kinder, und anscheinend nicht wenige, befinden, signalisiert dann schon die Höllenkreise in den Haftanstalten.

Die fangen mit den willkürlichen Verhaftungen an und enden beim namenlosen Verschwinden irgendwo: "Die Leichen von Hunderten von Personen, die von bewaffneten Gruppen aufgegriffen worden waren, wurden in Straßen, Hospitälern oder Abfallgruben entdeckt, viele mit gefesselten Armen oder Beinen, mit Foltermalen, Schusswunden …". Was den Bericht kennzeichnet, ist die Eindringlichkeit, mit der die fürchterliche Lage in Libyen beschrieben wird.

Und es werden Namen genannt, sehr viele Gefängnisse werden beim Namen genannt wie auch die Milizen, die dafür zuständig sind. Hier geht es nicht um Schablonen-Beschuldigungen - nichts bleibt unkonkret und daher ist auch ernst zu nehmen, was die beiden Organisationen als Grundübel benennen: das straffreie Gewährenlassen bzw. die Unterstützung der Aktivitäten der bewaffneten Gruppen.

Nicht wenige Milizen haben es mit dem Umsturz 2011 geschafft, sich in einer halbstaatlichen Sphäre zu etablieren, die ihnen einerseits große Befugnisse an die Hand gibt und anderseits garantiert, dass ihre Kidnappings, Erpressungen, politischen Morde, Folter und andere Gewalttaten nicht strafrechtlich verfolgt werden.

"Statt dass sie den bewaffneten Gruppen Grenzen gezogen und sie vollkommen unter staatliche Kontrolle gebracht hätten, haben mehrere aufeinanderfolgende libysche Regierungen ihnen erlaubt, selbst exekutive Funktionen zu übernehmen und sie bezahlt und mit Uniformen und anderem Material ausgestattet", heißt es im Bericht, der auch Serradsch wie auch Haftar nicht von deren Beteiligung und Verantwortung in der Sache freispricht.

Wer die italienische Zusammenarbeit mit Milizen, um den Migrationszuzug zu bremsen, für eine ausschließlich gute Idee hält, der mag sich diesen Hintergrund-Bericht dazu anschauen. Der Glaube, dass Milizen, denen man zunächst viel Freiraum gibt, um eigene politische Ziele zu verfolgen, sich später einfach kontrollieren lassen, ist ein Irrglaube. Wie langlebig er ist, konnte man noch beim Aleppo-Konflikt in Syrien verfolgen.

Die Hoffnungen, die mit dem starken Mann Haftar verknüpft sind, haben nach Ansicht von Jalel Harchaoui, ein Libyen-Experte, der für das Risk-Consulting Unternehmen Narco schreibt, nachgelassen. Haftar habe zu wenig geliefert, seine Machtbasis habe er nur im Osten. Es gebe Konkurrenten, die ebenso strikt gegen den politischen Islam vorgehen würden.