Libyen: Wieder mehr Migranten auf dem Weg nach Europa
… und keine fairen Lösungen in Sicht
Im italienischen Hafen Pozallo konnten kürzlich 363 gerettete Migranten auf dem NGO-Schiff Open Arms anlanden. Dass Malta sich laut der NGO mehrfach weigerte, die Migranten zu übernehmen, ist ein weiteres Zeichen dafür, dass sich die EU-Länder noch auf kein gemeinsames Vorgehen geeinigt haben.
Angesichts dessen, dass die Anzahl der Migranten, die sich von der libyschen Küste aus Richtung Europa aufmachten, im vergangenen Jahr deutlich zurückging, war der Druck nicht so stark, schnell zu einer Lösung zu kommen, die über situative Vereinbarungen hinausging. Zumal sich die italienische Regierung, nach dem Ausscheiden Salvinis als Innenminister, weitaus entgegenkommender gezeigt hat.
Allerdings erhöht sich gerade die Zahl der Bootsflüchtlinge, die in Libyen starten. Vor einer Woche hieß es, dass "fast 500" vor der Küste Libyens gerettete Migranten an Land dürfen. Italien hatte dem NGO-Schiff Ocean Viking mit 400 Menschen an Bord einen Hafen zugewiesen und die maltesische Küstenwache übernahm laut einem Bericht der Zeit 77 Migranten an Bord der Alan Kurdi. Zu diesem Zeitpunkt gab es auch Meldungen, dass auch die libysche Küstenwache öfter zu Einsätzen gerufen wurde (Libyen: Seenotrettung durch NGOs und türkische Kriegsschiffe).
Libysche Küstenwache: Im Januar 1.040 Menschen im Meer "aufgegriffen/gerettet"
Laut aktuellen Zahlen des UNHCR hat die libysche Küstenwache im Januar 1.040 Menschen im Meer vor der Küste "aufgegriffen/gerettet". Im vergangenen Jahr lag die Zahl bei 469. Das sind im Vergleich dazu 121 Prozent, so die UN-Flüchtlingshilfsorganisation. Bemerkenswert ist auch eine weitere Zahl, wenn sie denn stimmt: Null Tote im Januar, man habe im vergangenen Monat "keine Leiche vor der Küste geborgen". Im Januar 2019 waren es zwei.
Wie immer, wenn es um derartige Zahlen geht, gibt es allerdings auch andere Darstellungen und Quellen, so notiert die Seite Missing Migrants von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zwei Tote auch für den Januar 2020. Doch entsprechen deren aktuelle Zahlen zu den Abfahrtsversuchen (1.981) im Januar 2020 auf der zentralen Mittelmeerroute und den Ankünften in Europa (1.028) in etwa der Größenordnung, die man angesichts der oben erwähnten Meldungen erwartet.
Warnungen vor einer "neuen Flüchtlingskrise"
Der Anstieg, der sich hier, wenn auch weit entfernt von den Dimensionen früherer Jahre, abzeichnet, wird begleitet von neuen Warnungen. So schrieb der Spiegel kürzlich über einen vertraulichen Halbjahresbericht des Auswärtigen Dienstes der EU, dass darin vor einer "neuen Flüchtlingskrise" gewarnt werde. Nach Informationen des Hamburger Magazins befürchtet der Dienst, dass die libysche Küstenwache "schnell überfordert" wäre, wenn die kriegerische Lage im Land weiter eskaliere. Empfohlen werde die Rückkehr von europäischen Marineschiffen im Rahmen der Mission Sophia.
Allerdings ist eine europäische Seenot-Rettungs-Mission umstritten. Zwar appelliert etwa die NGO SOS Mediterranee an die deutsche Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer, die humanitäre Verpflichtung zur Rettung, die AKK predigt, auch mit Rettungsschiffen einzulösen, aber die EU-Mitglieder sind sich da gar nicht einig.
Eine zentrale Rolle spielt dabei eine Rechnung, die oft zur Sprache kommt - auch von einer Seite, die sich deutlich vom ideologischen Lager absetzt, das Orbán und dessen Sympathisanten unterstützt:
Wer fordert, die EU müsse zur Seenotrettungspolitik von 2016 zurückgehen, als 181.000 Menschen über das Meer nach Italien kamen und 4.600 ertranken, verliert. Im letzten Jahr kamen nur 12.000 nach Italien und es ertranken weniger als 800. Wenn Wähler in Europa die Wahl haben zwischen der Situation 2016 und der 2019, würden Mehrheiten 2019 wählen. Da kamen weniger, und es ertranken weniger.
Gerald Knaus
Die sterben jetzt an Land, könnte man hinzufügen.
Zu Gerald Knaus ist schon viel geschrieben worden. Der Vorsitzende des Think Tanks Europäische Stabilitätsinitiative (ESI) gilt als "Kopf hinter dem EU-Abkommen mit der Türkei" (siehe auch hier), wie er zu Anfang seines Gesprächs mit dem Tagesspiegel kurz gekennzeichnet wird. (In dem Gespräch gibt er auch kritische Anmerkungen zur Umsetzung des kontroversen Deals).
Wichtig für seine Position ist, dass er den Anspruch erhebt, eine faire Lösung zum Stopp der irregulären Migration und dem damit verbundenen Sterben im Meer und den unmenschlichen Bedingungen der Migranten in Libyen zu entwickeln. Dass er dem obigen Zitat den Satz anfügt: "Solange die einzigen verständlichen Vorschläge, wie man irreguläre Migration reduzieren kann, von Orbán oder Salvini kommen, werden die die Debatte am Ende immer gewinnen", ist der andere Ansatzpunkt.
"Fokus auf Erfolge. Keine abstrakten Debatten"
Seine Grundidee lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Asylbehörden sollen nicht in den Zielländern auf die Migranten warten und dann deren Anträge bearbeiten, sondern in enger Zusammenarbeit möglichst nah an den kritischen Orten schnell klären, wer einen Anspruch auf einen Schutz in der EU geltend machen kann. Jene, die keinen Schutz in der EU brauchen, sollten wiederum schnell zurückgeschickt werden. Dazu brauche es "menschenrechtskonforme Abkommen mit Transit- und Herkunftsländern".
Wir müssen beweisen, wie das, was wir vorschlagen, auf Lesbos oder mit einem westafrikanischen Land, tatsächlich funktionieren kann. Ich rede derzeit ununterbrochen mit Behörden in Gambia und in Deutschland über ein mögliches Pilotprojekt mit Gambia. Man bietet denen, die heute schon da sind, eine Chance zur Ausbildung und Arbeit. Gambia nimmt dafür sofort alle Straftäter und auch jeden, der ab diesem Stichtag nach Deutschland kommt, zurück. Und Deutschland bietet mehr Stipendien und legale Mobilität. Und wir stoppen so irreguläre Migration und das Sterben in Libyen und am Meer.
Gerald Knaus
Der Vorschlag ist im Prinzip nicht neu, eine Verlegung von Asylentscheidungen in nordafrikanische Länder wird seit Jahren diskutiert und seit Jahren weigern sich die nordafrikanischen Länder Hotspots oder "Ausschiffungszentren", wie es sich EU-Vertreter wünschen, auf ihrem Terrain anzusiedeln, aus Sorge vor politischen Folgen, die dies in den Ländern nach sich ziehen könnte.
Ob das Belohnungsrezept von Knaus aufgeht, ist fraglich. Man müsste den Ländern etwas Ernsthaftes anbieten, sagt er und nennt dazu: "Tunesien etwa Visafreiheit für Touristen, wie schon der Ukraine". Das Ausbildungs- und Arbeitsversprechen, das er im Zusammenhang mit Gambia erwähnt, könnte allerdings Gewicht hinzufügen.
Die Zeit drängt, so warnt auch Knaus. Man dürfe nicht warten, bis die Lage unerträglich werde. In vier Monaten könnte es schon die nächste große Flüchtlingskrise geben. Er verlangt einen "Fokus auf Erfolge. Keine abstrakten Debatten".
Italien verlängert "Flüchtlingsdeal" mit libyscher Einheits-Regierung
In der politischen Gegenwart setzt Italien genau darauf. Zur großen Kritik vonseiten der NGOs und von Amnesty International ist die italienische Regierung dabei, ihr Abkommen mit der libyschen GNA-Regierung zu verlängern, in dem die Migrationspolitik eine große Rolle spielt.
Das Memorandum of Understanding wurde schon 2008 also noch mit Gaddafi geschlossen. Es wurde unter der Regierung Gentiloni erneuert und enthält u.a. die Voraussetzung dafür, dass libysche Küstenwache dabei unterstützt wird, aufgegriffene oder gerettete Migranten wieder nach Libyen zurückzubringen. Nach einem aktuellen italienischen Medienbericht wird aber noch über Änderungen verhandelt. Es geht unter anderem darum, die Bedingungen in den fürchterlichen Inhaftierungslagern zu verbessern.
Man darf gespannt sein, was an wirklichen Verbesserungen erreicht wird. Offensichtlich waren selbst die Bedingungen im UNHCR-"Vorzeigelager" bei Tripolis (Gathering and Departure Facility, GDF) schauderhaft. Es wurde Ende Januar wegen der unsicheren Situation in Libyen, die das Lager und seine Insassen gefährdet, vom UNHCR geschlossen.
In dem nordafrikanischen Staat ist nach wie vor Härte die geltende Hauptwährung. Die militärischen Lösungen und die Aufrüstung allerorten dominieren. Daran konnte bislang auch der Berliner Prozess nichts Entscheidendes ändern.