Liebe unter Verwandten

Mensch und Schimpanse: Ein langer gemeinsamer Weg mit vielen Kreuzungen

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Mensch und Schimpanse haben sich vermutlich um einiges später auseinander entwickelt, und sehr wahrscheinlich haben sich beide Arten währenddessen auch untereinander fortgepflanzt.

Vor etwa 21 bis 33 Millionen Jahren teilte sich der gemeinsame Stammbaum von Menschenaffen und Mensch. Aus der einen Linie entwickelte sich der Homo sapiens, aus deren anderen zuerst der Orang-Utan, dann Schimpanse und Gorilla. Vor etwa 6,5 bis 7,4 Millionen Jahren dann, so der Stand der Wissenschaft, spazierten die ersten Hominiden über die Erde.

Das relative Alter des genetischen Austauschs zwischen Mensch und Schimpanse variiert über einen Zeitraum von zirka 4 Millionen Jahren, je nachdem welche Gen man betrachtet. Die Abbildung soll das illustrieren: Gen A beispielsweise trennte sich Millionen Jahre vor Gen B. Besonders auffallend ist das X-Chromosom, das vollständig in die Zeit vor der endgültigen Artbildung fällt.

Jetzt sind Forscher anhand umfassender molekulargenetischer Untersuchungen zu der Einschätzung gelangt, dass der Mensch ein wesentlich jüngeres Evolutionsprodukt ist, und es Hinweise für eine Phase der Hybridisierung mit den Schimpansen gibt. Im aktuellen Nature (Vol 441, vom 18. Mai 2006, DOI: 10.1038/nature04789) berichten sie.

Bislang umfassendste DNS-Untersuchung

Von den Schimpansen unterscheidet uns durchschnittlich gut 1 Prozent der Erbanlagen. Das ist bekannt, seit die Genome des Menschen (2003) und des Schimpansen (2005) vollständig sequenziert sind, und das ist verblüffend wenig. Bedenkt man allerdings, dass die DNS aus vier Basen besteht (Adenin, Thymin, Cytosin, Guanin), dann sind das von allen drei Milliarden Basenpaaren immerhin 35 Millionen Unterschiede – das Resultat von mehreren Millionen Jahren getrennter Evolution.

Seit Jahrzehnten sind Forscher damit beschäftigt zu bestimmen, wann und über welchen Zeitraum sich der Mensch und sein nächster Verwandter, der Schimpanse, voneinander abspalteten (Divergenz) und was dabei im Genom passierte. Während sich bisherige molekulargenetische Untersuchungen jedoch bei der Ermittlung der so genannten genetischen Divergenzzeit auf die Errechnung durchschnittlicher genetischer Unterschiede stützten, haben David Reich und seine Kollegen vom Broad Institute des Harvard and Massachusetts Institute of Technology in Cambridge/Massachusetts noch eins draufgelegt: Weil bekanntlich einige Gene älter sind als andere, bezieht ihre Arbeit auch den Faktor Alter mit ein. Das haben schon Forschungsgruppen vor ihnen getan, allerdings nicht mit 20 Millionen Sequenzdaten je untersuchter Art – die vorgelegte Studie ist so gesehen Spitze. Um die Ergebnisse „robust“ zu machen, wurden – gewissermaßen als Kontrollgruppen – zwei weitere Primatenarten (Gorilla, Orang-Utan) in die Analyse miteinbezogen.

Nachzügler X-Chromosom

Reich und Kollegen präsentieren spannende Resultate: Ihre Daten sprechen dafür, dass die evolutionsgeschichtliche Abspaltung von Mensch und Schimpanse sich wesentlich später ereignete, als die Forschung das bislang vermutet. Ihrer Meinung nach kann sie frühestens vor 6,3 Millionen Jahren stattgefunden haben, wahrscheinlicher aber vor weniger als 5,4 Millionen Jahren. Der gesamte Prozess, so glauben sie, zog sich in unterschiedlichen Teilen des Genoms über etwa 4 Millionen Jahre hin. Die Zeitspanne der Abspaltung ist damit wesentlich länger als bislang angenommen.

Eine besonders auffällige Entwicklung hat das menschliche X-Chromosom genommen: Es unterscheidet sich vergleichsweise wenig vom X-Chromosom des Schimpansen. Laut Reich und Kollegen ist es etwa 1,2 Millionen Jahre jünger als die restlichen Autosomen.

„Die Genom-Analyse hat große Überraschungen mit enormen Auswirkungen auf die Evolution des Menschen enthüllt“, schreibt Ko-Autor Eric Lander. „Erstens hat die Speziation (Artbildung) Mensch-Schimpanse wesentlich später stattgefunden, als bislang gedacht. Zweitens hat sich die Artbildung auf ungewöhnliche Weise vollzogen, mit einem ungeheuren Einfluss auf das Chromosom X. Das junge Alter des X-Chromosoms ist eine evolutionäre ‚smoking gun’.“ [„Rauchender Colt“, engl. für eindeutiger Beweis, Anm. d. Verf.].

Hybridisierung mit den Schimpansen

Die neue Datierung kollidiert allerdings mit dem Alter berühmter Fossilien wie Toumaï (Sahelanthropus tchadensis) (6,5–7,4 Mio. Jahre) (Ein Gorillaweibchen oder der älteste Verwandte des Menschen und Junger Mensch oder alter Affe?) und Orrorin tugensis (5,8 Mio. Jahre) und Ardipithecus kadabba (5,6–5,8 Mio. Jahre).

„Es ist möglich, dass das Toumaï-Fossil jünger ist als gedacht“, so Nick Patterson, der an dem Projekt als Statistiker mitgearbeitet hat. „Wenn unsere Datierung korrekt ist, dann stammt Toumaï noch aus der Zeit vor der Abspaltung von Mensch und Schimpanse. Die Tatsache, dass er menschliche Körpermerkmale besitzt, könnte dafür sprechen, dass die Artbildung Mensch-Schimpanse sich über einen langen Zeitraum hinzog, in dem es Hybridisierungsereignisse zwischen den beiden entstehenden Arten gab.“

Diese Hybridisierungstheorie bietet nach Ansicht der Wissenschaftler eine „provokative Erklärung“ für die vorgestellten Ergebnisse: Für den Befund etwa, dass sich beide Linien zunächst teilten, dann wieder Gene austauschten, um sich später endgültig auseinander zu entwickeln. Sie würde auch erklären, warum Toumaï zeitlich noch vor der Divergenz des Menschen liegen kann und trotzdem menschliche Merkmale aufwies. Und sie könnte auch den langen Zeitraum des Abspaltungsprozesses erklären und die Ähnlichkeit des X-Chromosoms bei Mensch und Schimpanse.

„Hybridisierungsereignisse zwischen den Vorfahren von Mensch und Schimpanse könnte die große Bandbreite der Abspaltungszeiten im Genom erklären, ebenso wie die ungeheure Ähnlichkeit des X-Chromosoms“, so Reich. „Dass man solche evolutionären Ereignisse nicht öfter bei Tierarten beobachtet hat, könnte ganz einfach daran liegen, dass wir einfach nicht darauf geachtet haben.“