Lieber Unternehmen zusperren als Kinder einsperren

Nicht so systemrelevant wie die Rüstungsindustrie: Kinder im Kindergarten.Bild: Iris Hamelmann via Pixabay

Die Corona-Krise sollte helfen, unser Geldsystems besser zu verstehen: Es gibt so gut wie keine Grenzen der Finanzierbarkeit

Jenseits des Verbots großer Menschenansammlungen basiert die Corona-Strategie der Bundesregierung vor allem auf der simplen Überlegung, genau die Bereiche der Gesellschaft herunterzufahren, die nicht lebensnotwendig sind und möglichst geringe monetäre Kosten verursachen. Dabei ist das produzierende Gewerbe (Bruttowertschöpfung 920 Milliarden Euro) sakrosankt – nicht einmal die jeder Systemrelevanz unverdächtige Rüstungsindustrie steht still (rund 30 Milliarden Euro)1; auch im Dienstleistungsbereich (zwei Billion Euro) läuft fast alles; geschlossen sind lediglich weite Teile des Gastgewerbes (50 Milliarden Euro) – nachzulesen hier auf Seit 336 – und des Handels von Nicht-Lebensmitteln, körpernahe Dienstleistungen, Teile des Sports, Tourismus und Freizeit.

Dass in der Wirtschaft das allermeiste seinen gewohnten Gang geht, erkennt man schon an dem nur um 5,0 Prozent gesunkenen Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2020, obwohl sich die coronabedingten Einschränkungen in vielerlei Ausprägungen über viele Monate hinzogen. Aus Sicht wachstumsorientierter Ökonomen könnte dieser Strategie Erfolg attestiert werden (in der Folge der Finanzkrise brach das BIP 2009 um 5,7 Prozent ein – trotz Verschrottungsprämie.

Um den Laden am Laufen zu halten legte der Staat ansehnliche Fiskalprogramme auf. Er bezahlte Kurzarbeitergeld für bis zu sechs Millionen Menschen (insgesamt 22 Milliarden Euro), verhindert so die Arbeitslosigkeit von ca. einer Million Menschen und erreichte, dass die Zahl der Erwerbstätigen um lediglich 1,5 Prozent sank (S. 38, Zahlen vom November 2020).

Der Staat erhöhte auch Investitionen (im Vergleich mit 2019 um 12 Milliarden Euro) und zahlte an Unternehmen direkt rund 40 Milliarden Euro aus – trotz berechtigter Kritik an den Hilfsprogrammen. Er vergibt "Schnell-"Kredite (viele zehn Milliarden Euro), Kreditgarantien (viele hundert Milliarden Euro) und Rettungspakete (Lufthansa: sieben Milliarden Euro); er unterstützt Familien (Kinderbonus: vier Milliarden Euro), setzt Steuersenkungen um (MwSt.: 20 Milliarden Euro) und vieles mehr, doch die staatliche Neuverschuldung 2020 betrug lediglich vier Prozent des Bruttoinlandsproduktes (130 Milliarden Euro von 3,33 Billionen Euro).2

Die Zahlen verdeutlichen, dass der Staat während der Krise nicht nur exekutive Macht zeigt, sondern auch fiskalisch gestalten kann. Eine in Zeiten der neoliberalen Globalisierung äußerst wichtige Erkenntnis.

In "normalen" Zeiten unterminiert die öffentliche Hand ihre Handlungsmacht leider mit fadenscheinigen oder ideologischen Argumenten, etwa dass Schulden (selbst bei Nullzins) so gering wie möglich sein müssen oder möglichst viele Aufgaben den Märkten zu überlassen seien. Dabei hätte der Staat noch viel weiterreichende Möglichkeiten, um etwa eine zukunftsfähige Ökonomie auf den Weg zu bringen oder soziale Gerechtigkeit herzustellen.

Auch in der Corona-Krise könnte er einen Shutdown organisieren, der nicht auf ökonomische Optimierung, sondern auf eine Minimierung von sozialen und psychologischen Schäden abzielt. Doch dafür müssen wir die Rolle unseres Geldsystems genauer durchschauen.

Eine Gesellschaft ohne Geld

Stellen Sie sich deshalb für einen Moment vor, das Corona-Virus befällt eine hochentwickelte Gesellschaft, in der es kein Geld gibt, unserer ansonsten aber gleicht. Banken gibt es nicht, stattdessen überlegen sich Menschen mit Hilfe von einer "unsichtbaren Hand" oder einer "natürlichen Intelligenz", welche Beschäftigten wo in der Investitionsgüter- oder Konsumgüterindustrie arbeiten oder (öffentliche) Dienstleistungen bereitstellen etc.. Weil es einen Mix aus Moral, Vertrauen und Überwachungseinrichtungen gibt, gehen alle Menschen ohne Geld in Geschäfte und nehmen sich die gewünschten Produkte einfach.

Das klingt für ein monetär geprägtes Gehirn utopisch, ist aber ein instruktives Gedankenspiel, um die Auswirkungen unseres Geldsystems auf die Corona-Krise zu verstehen.

Wenn sich aufgrund einer Pandemie ein Staat ohne Geldsystem dazu gezwungen sieht, die Kontaktdichte zwischen Menschen zu minimieren und die gesellschaftlichen Aktivitäten auf das absolute Minimum herunterfährt, dann wird er natürlich die Lebensmittelerzeugung ausnehmen, nebst einiger anderer Bereiche (Verarbeitung und Verteilung d. Lebensmittel u. dafür notwendige Bereiche, Basisinfrastrukturen wie Energieversorgung und Gesundheitssystem und was damit zusammenhängt, wichtige Handwerkerleistungen u. Instandhaltung etc.).

Aber wozu sollte er den Flugverkehr, die Kfz-, Schiff-, Flugzeugproduktion, den Bau, die Möbelproduktion oder die Herstellung der meisten hierfür verwendeten chemischen Erzeugnisse aufrechterhalten, wenn es nur um einen ein- oder zweimonatigen Shutdown geht?

Angenommen, 80 Prozent der Bevölkerung sitzen hernach zu Hause, wovon manche noch die Möglichkeit haben via Internet zu arbeiten, und 20 Prozent müssen außer Haus, um die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen – wie lange lässt sich dieser Zustand aufrechterhalten? Die Antwort ist einfach: So lange die (Wohn-, Verkehrs- u. sonstige) Infrastruktur nicht marode wird und die Menschen nicht rebellieren.

So könnte sich der arbeitende Teil der Bevölkerung irgendwann die Frage stellen, ob er nicht ungerecht behandelt wird, wenn er über Wochen und Monate eine große Zahl nicht arbeitender Menschen mitversorgt. Da Kontakte nur so weit reduziert werden müssen, um das Virus möglichst schnell aber unter möglichst weitgehender Vermeidung von psychischen und sozialen Schäden zu dezimieren, kann unsere Gesellschaft ohne Geld mit weitgehend geschlossener Industrie Kontakte an anderer Stelle zulassen und etwa Grundschulen offenhalten.

Sie kann zumindest einige Kontakte zulassen, die für das gesellschaftliche Leben von Menschen von hoher Bedeutung sind (von kleineren Gruppentreffen über manche Sportveranstaltungen bis zu wichtigen Feierlichkeiten, etc..) sodass noch immer ein Mensch im Durchschnitt weniger als einen weiteren ansteckt und damit das Virus zurückgedrängt würde.

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