Links und rechts: Mit immer neuen Bedeutungen überfrachtet
Seite 2: Vermessene und sprachliche Ungenauigkeiten
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Ein Beispiel für solche quantitativen Analysen kommt von Markus Wagner und Thomas Meyer, Professoren an der Uni Wien. Sie untersuchten, wie Parteien sich in Programmatik und Wording anderen Parteien anpassen.
Die beiden stellten einen "Rechtsruck" in den europäischen Parteiensystemen fest, ließen aber offen, wie sie rechts definierten – im Sinne eines Automobils, welches so heißt, weil es selbstbeweglich (autós — mobilis) ist.
Solange dieser Kardinalfehler der Politikwissenschaft nicht behoben ist, also die Urdefinition von rechts und links, muss sie nach Auffassung des Autors mit dem Vorwurf weiterleben, allenfalls eine bessere Religionswissenschaft zu sein.
Das Navigationssystem der SPD
Wagner und Meyer untersuchten 68 Parteien in 17 Ländern, wobei sie die Wahlprogramm- und Ergebnisdaten aus der Manifesto Project Database (MPD) bezogen. Die MPD ist ein anspruchsvolles Projekt, nicht zuletzt, weil Parteien andauernd ihr Selbstbild ändern.
Beispielsweise lautete das Selbstbild der SPD im frühen Godesberger Programm: Wir sind die linke Volkspartei. 1998 wurde Gerhard Schröder Bundeskanzler mit dem Slogan: Wir sind die Neue Mitte. Im Bremer Entwurf 2007 war die SPD plötzlich die Partei der solidarischen Mitte und im Hamburger Programm desselben Jahres wieder die linke Volkspartei.
Ob das Navigationssystem der SPD wohl politische mit räumlicher Orientierung verwechselt, welches am Ende die politische Mitte mit der Mittelschicht verwechselt?
1789 bedeutete links, gegen den Krieg (gegen Österreich) zu sein. Heute ist die SPD für den Krieg – zum Beispiel in der Ukraine, die sie kräftig mit Waffen beliefert. 1789 stand links für mehr Bürgerrechte und die Freiheit der Menschen.
Eine überwachungsfreudige, "stasi-oide" SPD der 2000er schränkt die Freiheit der Menschen jedes Jahr ein weiteres Stück ein (Massenüberwachung, Einschüchterung von Justiz und Journalisten, Netzwerkdurchsetzungsgesetz, Zensur, smartes Gebäude-Energie-Gesetz, u.v.m.).
1789 bedeutete rechts, aufseiten der wenigen Mächtigen zu stehen, die die kleinen Leute unterdrückten. Würde man Ludwig XVI. den Erlass so vieler Verbote zuschreiben wollen, wie es die SPD seit Jahren praktiziert, plädiert der Autor auf Majestätsbeleidigung. Ideologische Sprachfallen, wo man hinschaut.
Die einstige DDR wurde auch nicht dadurch demokratisch, dass sie sich so nannte. Und Mussolini sah sich wie Hitler anfangs als Sozialist. Die Parteizeitung der NSDAP schrieb am 06. Dezember 1931, nichts sei der NSDAP verhasster als der rechtsstehende, nationale Besitzbürgerblock.
Jugend und die Links-Rechts-Identifikation
Eine nüchterne Studie zum Abschluss: Die Studienergebnisse vom Utrechter Politikwissenschaftler Roderick Rekker sollen zeigen, wie die Jugendzeit (sic Adoleszenz) einen nachhaltigen Einfluss auf die Links-Rechts-Identifikation des Menschen hat.
Die Umstände während der Jugendjahre seien für die politische Einstellung entscheidend. Man erinnert sich an die Aussage des oben zitierten Herders, das moralische Empfinden erweise sich in der Regel als angemessen und erklärbar – je nach Gesellschaftstyp und Lebensform.
Rekker untersuchte in zwölf Ländern die Kohorten aus der Zwischenkriegszeit, die Babyboomer, die Generation X und die Millenials. Offenbar sind kulturelle Fragen für jüngere Kohorten derzeit tendenziell relevanter als das Thema Umverteilung.
Für Wähler, die zwischen 1917 und 1960 heranwuchsen, sei noch die Frage des Säkularismus entscheidend gewesen: Hauptsache weg von der Kirche. Bei Heranwachsenden der Jahre 1960 bis 1980 gings um bürgerliche Freiheiten, und bei den Jugendlichen zwischen 1980 und 2008 um Einwanderung.
Später Geborene würden die Welt zunehmend in Schwarz-Weiß-Schemata definieren. Sie umtreibt vor allem die Themen Umweltschutz und Einwanderung. 1789 mag es noch ein "linkes" Ansinnen gewesen sein, dass es den Ärmeren besser geht.
Im Westeuropa des 21. Jahrhunderts spielt dies jedoch immer weniger eine Rolle.