Literatur als Waffe der Kritik

... und der linguistische Fingerabdruck, den man dabei hinterlässt - nicht nur in China

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die Buchmesse 2009 in Frankfurt - mit China als Gastland - ist vorbei. Aber die Eröffnungsrede der Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am 13.10.2009 sollten alle im Gedächtnis behalten, die Literatur (auch) als Waffe der Kritik schätzen und nicht missen wollen.

Mit streng focussiertem Blick auf die chinesische Staatsführung ließ es sich die Bundeskanzlerin nicht nehmen, ein Hohelied auf die Freiheit der Literatur anzustimmen:

Bücher fordern unsere Aktivität, sie beflügeln vor allen Dingen unsere Phantasie. Das macht sie, für mich jedenfalls, einzigartig und unverzichtbar. Phantasie kennt bekanntlich keine Grenzen. Sie beflügelt uns, offen für Neues zu sein und uns immer wieder auf Neues einzulassen [...] Bücher stoßen an, sie bieten Reibeflächen, sie provozieren, kritisieren und stellen Unterschiede heraus - Unterschiede, die eine Diktatur gefährden und eine Demokratie auszeichnen.

Für gewöhnlich schenkt man solchen Gala-Worten wenig Vertrauen und Aufmerksamkeit. In diesem Fall möchte ich die Bundeskanzlerin beim Wort nehmen und ihre paradigmatische Aussage einmal auf das Land der Dichter und Denker anwenden.

Werden hier "regimekritische" Veranstaltungen nicht observiert, überwacht und ausgewertet? Was passiert hier mit "regimekritischen" Texten? Dienen sie auch hier der geheimdienstlichen Indizierung und strafrechtlichen Verfolgung?

Einen solchen Verdacht, einen solchen Vorwurf zu belegen ist schwer, denn schon der Versuch einer journalistischen oder personenbezogenen Recherche endet im Allgemeinen mit dem Verweis auf die "Geheimhaltungs- und Schutzinteressen" der Bundesrepublik Deutschland.

Im Folgenden geht es also um einen "Glücksfall", den man nicht vielen Menschen wünscht.

Man braucht keine Diktatur, um "Literatur" als Beweismittel zur strafrechtlichen Verfolgung anzuführen bzw. zum Gegenstand geheimdienstlicher Überwachung zu machen

Vor zwei Jahren landete Andrej Holm, der als Soziologe zur Stadtentwicklung arbeitet und sich u.a. kritisch zur "Gentrifizierung" äußert, wegen "linguistischer Nähe" zur "Militanten Gruppe" (mg) für mehrere Wochen im Knast. Mit "Neun Wörter - ein Terrorverdacht"1 beschrieb die Frankfurter Rundschau knapp und völlig ausreichend die staatsanwaltschaftliche Beweisführung, die zum Haftbefehl und dessen Vollstreckung führte. Was sich wie ein Witz anhört und der Welt des Großen Diktators von Charlin Chaplin entlehnt sein könnte, machte Andrej Holm dringend verdächtig, Mitglied in einer terroristischen Vereinigung zu sein: Das Bundeskriminalamt fand heraus, dass es zwischen einem Text von besagtem Soziologen und Bekennerschreiben der "mg" eine "Vielzahl" von Übereinstimmungen gäbe, um genau zu sein um besagte Neun: Wörter wie "Reproduktion", "implodieren", "politische Praxis" oder das nicht ganz leichte Wort "Gentrifizierung"2 würden in beiden Texten auftauchen. Was beweist das, außer dass man der deutschen Sprache mächtig ist und sich bei bestimmten Themen ähnliche Worte finden lassen?

Aufgrund einer breiten Solidaritätsbewegung kam er zwar wieder frei - das Ermittlungsverfahren wegen Verdachts der Mitgliedschaft in bzw. der Unterstützung einer kriminellen Vereinigung nach § 129 wird hingegen bis heute fortgeführt.

Der "linguistische Fingerabdruck"

Wie passt "anstößige" und "provozierende" Literatur, die eine Demokratie auszeichnet, mit dem "linguistischen Fingerabdruck" zusammen, den Polizeidienste in Deutschland erstellen und für "beweiserheblich" halten?

Wo ordnet man die Staatsverfassung der Bundesrepublik Deutschland ein, wenn "anstößige" und "provozierende" Texte nicht als Auszeichnung verstanden werden, sondern im Rahmen der "Gefahrenabwehr" vom Geheimdienst, hier dem Verfassungsschutz, überwacht und als "Hintergrund" zur Begründung von Ermittlungsverfahren und Verfolgungsmaßnahmen genutzt werden?

Nachdem ich im Jahr 2007 davon unterrichtet wurde, dass vor neun Jahren sechs Monate lang meine Post gelesen und mein Telefon abgehört wurden, stellte ich einen Antrag beim Bundesamt für Verfassungsschutz, Auskunft darüber zu bekommen, welche "Erkenntnisse" über mich gesammelt und zur Begründung eines Ermittlungsverfahrens bereitgestellt wurden. Neben zahlreichen anderen "Informationen", die eine Zeitspanne von 30 Jahren abdecken, überraschte mich nachstehende geheimdienstliche Veranstaltungsausspähungen und Literatursammlung - was im Laufe des Verfahrens um weitere Observationsberichte von Veranstaltungen "ergänzt" wurde, als wäre all dies dem schreibenden Beamten gerade wieder eingefallen.

Das Ganze beginnt mit einem Observationsbericht über eine Veranstaltung im Jahr 1987:

Weiter lehnte er etwa die tödlichen Schüsse auf zwei Polizisten an der Startbahn West auf einem Forum am 19.11.1987 in einem Grundsatzreferat ab [...]

Schreiben des BMI vom 16.9.2009

[...] erwähnt die Teilnahme 'an einem "Konkret-Kongress' [...], der vom 11. -13. Juni 1993 in Hamburg stattfand.

BfA-Schreiben vom 7.9.2007

und endet im Jahr 1996:

An der Vorführung des Films 'Gefahr für das Datennetz, Attentat auf Glasfaserkabel am Frankfurter Flughafen' nahm er zweimal teil.

Schreiben des BMI vom 16.9.2009

An meinen Rechtsanwalt gerichtet sind folgende Presseveröffentlichungen indiziert:

Die nach eigenen Angaben marxistische Tageszeitung 'junge Welt' (jW) veröffentlichte am 21. Januar 2002 einen Beitrag Ihres Mandanten mit dem Titel: 'Just-in-time Produktion - Die Globalisierung der Märkte und die Latenz zum Weltkrieg. Die NATO im Kriegszustand'.

Am 21./22. Januar 2003 erschien in der jW ein Artikel Ihres Mandanten unter dem Titel: 'Ohne Gott und Adorno -Warum es Gründe gibt, gegen den Irak-Krieg zu sein und dem deutschen Frieden nicht zu trauen - Die Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens'.

Die selbe Zeitschrift veröffentlichte einen weiteren Beitrag Ihres Mandanten am 29. April 2003 unter dem Titel: 'Der Gefährder'. Darin äußerte sich Ihr Mandant zu den im Vorfeld von Demonstrationen zum 1. Mai durch die Polizei vorgenommenen Ansprachen von Personen, die als 'Gefährderinnen und Gefährder' eingestuft wurden.

Die 'INTERIM' veröffentlichte in der Ausgabe vom 1. September 2005 eine Erklärung der "militanten gruppe" (mg). Der Text war eine Reaktion auf den Beitrag Ihres Mandanten mit dem Titel 'Teuflische Enge', der in der jW vom 3. August 2005 veröffentlicht worden war.

Im Mai 2002 wurde im Internet ein von Ihrem Mandanten unterzeichneter Beitrag: "ANTIDEUTSCHE KRIEGSFÜHRUNG - EIN LEHRGANG FÜR ANFÄNGERINNEN UND FORTGESCHRITTENE" festgestellt.

Ein von Ihrem Mandanten etwa 2004/2005 erstellter Text mit der Überschrift: 'Skizze einer politischen Plattform' dient linksextremistischen Gruppierungen als Diskussionsgrundlage.

Dass es sich dabei nur um eine selektive Auswahl handelt, um eine westdeutsche Geruchsprobe, machte das BfV im selben Schreiben deutlich:

Obwohl [...] kein gesetzlicher Auskunftsanspruch besteht, teilen wir Ihnen im Wege des Ermessens mit, dass das BfV im Rahmen seiner Aufgabenerfüllung gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVerfSchG die folgenden Informationen über Aktivitäten Ihres Mandanten mit linksextremistischem Hintergrund oder Bezug gesammelt hat [...]. Eine weitergehende, umfassende Auskunft zu etwaigen Datenspeicherungen aufgrund sonstiger [...] Sachverhalte kommt im Hinblick auf die Geheimhaltungsinteressen des BfV nicht in Betracht. Des Weiteren würde es einen - bedingt durch fehlenden Sachvortrag - unverhältnismäßigen Aufwand verursachen, Akten darauf hin zu sichten, ob Ihr Mandant in ihnen namentlich erwähnt ist. Das sagt nichts darüber aus, ob hier weitere Daten zu Ihrem Mandanten erfasst sind oder nicht.

Schreiben des Bundesamt für Verfassungsschutz vom 7.9.2007

Was beweist diese geheimdienstliche Literaturliste, wenn man einmal nicht auf die Bundeskanzlerin hört? Ganz klar und eindeutig "ein intellektuelles Vorbereitungsstadium".3 Auf was? Auf schwere Straftaten. Was sonst.

Exakt mit dieser Begründung fühlt sich der Verfassungsschutz völlig berechtigt, diese Literatursammlung aufzuwahren - länger als in jedem Buchladen.

Laut Verfassung sammelt der Verfassungsschutz diese "Anhaltspunkte für einen Verdacht", um dann zu prüfen, ob dieser nachrichtendienstlich gehegte Verdacht begründet ist oder nicht. Das hört sich vernünftig und folgerichtig an.

Wie bereits erwähnt, wurde genau das mit allen Mitteln bis hin zum Abhören des Telefons und der Überwachung des Postverkehrs über ein Jahr lang getan - ergebnislos. Ändert das etwas an dem Verdacht? Ändert das etwas daran, dass diese Literaturliste beim Verfassungsschutz gespeichert ist?

Nein.

Zweifellos schaffen es hier einige wenige "Fälle", auch an eine breite Öffentlichkeit zu gelangen - was in China aussichtslos ist. Was jedoch auffallen und beängstigen müsste, ist der Umstand, dass diese "Skandale" völlig wirkungslos bleiben: Im Gegenteil: Was vor Jahren noch rechts- und verfassungswidrig war, ist mittlerweile über neue gesetzliche Grundlagen und Befugnisse "legalisiert".

Zur Person: Wolf Wetzel beteiligte sich in den 90er Jahre an verschiedenen antirassistischen Initiativen, zuletzt in der Anti-Nazi-Koordination/ANK in Frankfurt. Als Autor veröffentlichte er unter anderem eine dokumentarische Erzählung über die so genannte "Startbahnbewegung", in der er selbst über zehn Jahre aktiv war.