Lobbykratie und Parteienfrust: Wenn Wahlen etwas ändern würden...
Dem bundesdeutschen Parteiensystem wird immer weniger Lösungskompetenz für zentrale Probleme zugetraut. Soziale und ökologische Bewegungen sehen den Grund darin, dass Konzerne zu viel Macht haben.
Mehr als 60 Prozent der Bevölkerung trauen laut einer aktuellen Umfrage keiner Partei mehr zu, drängende Probleme zu lösen. Was noch als enttäuschte Erwartungshaltung der "schweigenden Masse" angesehen werden könnte, die sich nicht selbst politisch engagieren will, wird von bekannten Akteuren aus sozialen und ökologischen Bewegungen im Grunde bestätigt:
"Ausgerechnet eine von Sozialdemokraten und Grünen angeführte Regierung bleibt bei der Verbindung von Ökologie und Gerechtigkeit unter ihren Möglichkeiten", kritisierten die Klimaschutz-Aktivistin Luisa Neubauer und der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Ulrich Schneider, neuerdings Ex-Mitglied der Partei Die Linke, am Dienstag in einem Gastbeitrag für den Spiegel. Sie warfen die Frage auf, warum dies so sei.
Die Parteizentrale der Grünen in Berlin wurde unterdessen am Dienstag von Umweltbewegten blockiert, die darauf schon eine klare Antwort geben: Im bundesdeutschen Parteiensystem und speziell im Ministerium für Wirtschaft und Klimaschutz hätten in Wirklichkeit Lobbyisten das Sagen, begründete das Netzwerk Extinction Rebellion die Aktion und seine Forderung nach "Bürger:innenräten".
Das vom Grünen Robert Habeck geführte Ministerium ist kein Klimaschutzministerium, sondern ein Ministerium für fossile Konzerne. Denn ob Gas-, Kohle- oder Ölkonzern, sie profitieren von der derzeitigen Wirtschaftspolitik. Energiekonzerne fahren Milliarden an Gewinnen ein, während Menschen mit geringeren Einkommen ihre Stromrechnungen und Heizkosten nicht mehr zahlen können.
Die Maßnahmen der Regierung zur Entlastung der Bevölkerung reichen nicht aus. Neoliberale Glaubenssätze werden strukturell nicht angetastet. Durch diese Wirtschaftspolitik wird die Klimakrise befeuert und der soziale Frieden gefährdet.
Eine Sprecherin des Netzwerks Extinction Rebellion zur Blockade vor der Grünen-Zentrale am Dienstag in Berlin
Nun ist nicht anzunehmen, dass mehr als 60 Prozent der Bevölkerung zuerst an die Klimakrise denken, wenn sie den Parteien keine Lösungskompetenz zutrauen. Viele dürften aktuell sogar hoffen, dass menschengemachte Klimawandel, wenn er schon mal da ist und im Sommer zunehmend für Dürren sorgt, wenigstens auch den kommenden Winter abmildert. Dass auch Habeck Anfang der Woche nichts Besseres einfiel, als auf "ein bisschen Glück mit dem Wetter" zu spekulieren, um "gut über den Winter zu kommen", kommt dennoch nicht gut an.
Energiearmut ohne echten Klimaschutz
Das Schlimmste ist, dass all die Szenarien, vor denen Klimaschutzverweigerer gewarnt haben, aktuell ganz ohne ernsthaften Klimaschutz einzutreten drohen: Kohlekraftwerke wurden bereits aus der Reserve genommen, um den Wegfall russischer Gaslieferungen auszugleichen – und ein allgemeines Tempolimit gibt es immer noch nicht. So haben die Grünen auch bei denjenigen Sympathien verspielt, die für echten Klimaschutz sogar bereit wären, sich einzuschränken.
Neubauer und Schneider wollen endlich mit dem "Märchen vom unsozialen Klimaschutz" aufräumen – verbreitet werde es von denjenigen, "die weder an sozialem Ausgleich noch an Klimaschutz interessiert sind", schreiben sie.
Sie haben es geschafft, ein "oder" zwischen "Klima" und "Soziales" zu setzen. Klimaschutz wird als unsozial und zu teuer dargestellt, Armut wiederum als Naturgesetz. Mit diesem "oder" erklären politische Kräfte, man müsse sich zwischen sozialem Ausgleich und Klimaschutz entscheiden, beides zusammen gehe nicht, schon gar nicht jetzt.
Das zweite Märchen ist die Geschichte von der finanziellen Knappheit: Man müsse sich zwischen Entlastungen für die Menschen heute und Investitionen in Klimaschutz für die Welt von morgen entscheiden. Die schwarze Null ist in diesem Märchen wichtiger als die Würde der Menschen am Existenzminimum oder der Sicherung der ökologischen Lebensgrundlagen. Reichtum lässt sich angeblich nicht umverteilen: Wer hat, hat’s verdient, und wer arm ist ebenso.
Luisa Neubauer und Ulrich Schneider im Gastbeitrag für den Spiegel
Während Luisa Neubauer selbst noch Mitglied der Grünen ist, ihre Partei aber schon mehrfach öffentlich kritisierte, trat Ulrich Schneider erst vor wenigen Tagen aus der Partei Die Linke aus, die im Bundestag die kleinste Oppositionsfraktion stellt und zum "heißen Herbst" der Sozialproteste aufruft.
Als Grund für seinen Austritt nannte Schneider die Rede seiner Ex-Parteifreundin Sahra Wagenknecht am 8. September im Bundestag zum "beispiellosen Wirtschaftskrieg" gegen Russland, die auch innerhalb der Fraktion für heftigen Streit sorgte. Die Spaltung scheint aber vorerst abgewendet, wohl auch aus Angst vor der Fünf-Prozent-Hürde, die bei den jetzigen Umfragewerten wohl alle Beteiligten bei der nächsten Wahl ihre Mandate kosten würde.
Breite Bündnisse unabhängig von Parteien angestrebt
Im gemeinsamen Spiegel-Gastbeitrag gehen Schneider und Neubauer allerdings nicht näher auf den Ukraine-Krieg und die westliche Sanktionspolitik gegen Russland ein – möglicherweise, um breite Protestbündnisse für Soziales und Klima nicht an dieser Thematik scheitern zu lassen.
Stattdessen wird ganz allgemein betont, dass "wir von den fossilen Energien, ihren Autokraten und Megakonzernen loskommen" müssten. Gaslieferungen von wem auch immer werden ohnehin nur als schnellstmöglich zu überwindende Zwischenlösung gesehen.
Die Wurzeln der Energiekrise und der Klimakrise sind dieselben: Abhängigkeit von fossilen Energien und fossilen Energiekonzernen und eine Politik, durch die Gewinne privatisiert und Verluste kollektiviert werden.
Luisa Neubauer und Ulrich Schneider
"Das Geld ist da": Beispiellose Beschleunigung der Energiewende gefordert
Im ersten Halbjahr 2022 seien die Gewinne des Energiekonzerns RWE auf deutlich mehr als zwei Milliarden Euro angewachsen, ermöglicht "durch eine kriegsbedingte Knappheit und bezahlt von Menschen, für die die Nebenkostenabrechnung am Ende des Monats zum Abgrund geworden ist". Beide fordern stattdessen eine beispiellose Beschleunigung der Energiewende.
Das Geld sei schließlich da, gab am Dienstag auch Annemarie Botzki von Extinction Rebellion (XR) im Gespräch mit Telepolis zu bedenken. Terminals für den Import von Flüssigerdgas würden schließlich auch viel Geld kosten. Mit dieser Investition würden "Entscheidungen für Jahrzehnte getroffen – mit desaströsen Folgen für uns alle".