Los Angeles - 138 Mal zerstört

Mike Davis prophezeit in seinem kontroversen Buch "Ökologie der Angst" den baldigen Untergang von Los Angeles

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Im letzten Jahr tobte in Amerika eine Art Kulturkampf um die Zukunft von Los Angeles. Anlass war das neue Buch von Mike Davis, dem "provozierendsten Gesellschaftskritiker der USA" (Los Angeles Times), der ganz Südkalifornien eine düstere Zukunft vorher sagt: In "Ökologie der Angst" beschreibt der "wilde Mann der Soziologie" Los Angeles als Pulverfass, das jeden Moment durch Rassenunruhen, Erdbeben, Überschwemmungen oder Großbrände in die Luft zu gehen droht. Kein Wunder, dass diese Prognose mächtige Interessengruppen wie Immobilienmakler und Tourismus-Manager auf den Plan rief und eine Diskussion entfesselte, die in den Medien und in der Öffentlichkeit eine große Resonanz fand.

"Kein Ort auf Erden bietet mehr Sicherheit im Leben und größeren Schutz vor Naturkatastrophen als Südkalifornien", schrieb die Los Angeles Times vor gut 60 Jahren. Angesichts beinahe jährlich wiederkehrender Großfeuer und anderer "Jahrhundertkatastrophen" eine geradezu makabre Fehleinschätzung. Los Angeles, eine Stadt, in der fast immer die Sonne scheint, der Boden fruchtbar ist und genug Platz, dass sich jeder sein eigenes Haus bauen kann?

In diese scheinbare Idylle wirkte Mike Davis' erster Streich wie ein Stich ins Wespennest: Mit seinem Buch City of Quartz sorgte er 1990 zum ersten Mal für Aufsehen, als er vor kurz bevorstehenden Rassenunruhen warnte. Als diese gut zwei Jahre später tatsächlich eintrafen, brachte dies zwischenzeitlich alle Kritiker zum Verstummen und dem ehemaligen Teilzeit-Fernfahrer eine Professur für Urbanistik ein.

In "Ökologie der Angst" beschäftigt sich der 53-Jährige nun mit der Klimaforschung und seismischen Aktivitäten des Untergrundes. Und kommt zu dem Schluss, dass die eigentliche Frage nicht laute, warum es in der Vergangenheit so viele Katastrophen gegeben habe, sondern: "Weshalb waren es eigentlich nur so wenige?" Laut Davis erfolgte die Urbanisierung des Großraums von Los Angeles während einer der ungewöhnlichsten Perioden seit Beginn des Holozäns, in der Klima und Seismik dem Menschen außerordentlich wohlgesonnen waren. Mit anderen Worten: Los Angeles hat im 20. Jahrhundert einfach Glück gehabt.

Mike Davis spricht mit zwei Stimmen: Mit der des wissenschaftlichen Aufklärers und mit der des ironischen Erzählers: So sorgte vor allem ein Kapitel aus "Ökologie der Angst" für heftige Kritik, in dem der bekennende Marxist unter der Überschrift "Brandsache Malibu" nur halb im Scherz fordert, den Prominentenwohnort beim nächsten Großbrand einfach abbrennen zu lassen. Dem umliegenden Wald tue das nur gut, und die Stadt verschwende eh viel zu viel Geld darauf, die Reichen zu beschützen. Dieser polemisch überspitzte Vorschlag bot vielen Kommentatoren einen willkommenen Anlass, das ganze Buch zu diskreditieren. Womit man Mike Davis Unrecht tut, der ansonsten um eine wissenschaftliche Arbeitsweise bemüht ist, die jede aufgestellte Behauptung und Zahl belegt. Und so spielt er in "Brandsache Malibu" lediglich auf die Ungerechtigkeit an, dass bei dem letzten Feuer von 1993 zwar 15.000 "Firefighters" eingesetzt wurden, um unter anderem die Villa von Sean Penn zu retten, aber gleich nebenan die Mietskasernen der Armen ungeschützt abbrennen konnten. Und das, obwohl hier schon die Durchsetzung einfachster Brandschutzmaßnahmen geholfen hätte, Menschenleben zu retten.

Kein Zweifel besteht daran, dass Los Angeles, wo sich über 15 Millionen Menschen auf engstem Raum an einem der gefährlichsten und unwirtlichsten Orte der Welt drängen, für die Rolle des ökologischen Selbstmörders geradezu die ideale Besetzung darstellt: Nur Mexico-City hat seine Umwelt noch gründlicher vergiftet, keine andere Metropole wächst mit so halsbrecherischer Geschwindigkeit.

Gleichzeitig scheint sich kein anderer Ort so gut als Stadt des Jüngsten Gerichts zu eignen: Seit 1909, so rechnet Davis vor, sei Los Angeles genau 138 Mal in Filmen und Romanen dem Erdboden gleichgemacht worden. Allein im Sommer 1996 wurde Los Angeles auf den Leinwänden der Multiplexe sowohl von Außerirdischen heimgesucht ("Independence Day"), als auch durch Mega-Erdbeben in die Barbarei zurück katapultiert ("The Crow: City of Angels" und "Escape from L.A."). Ein Jahr später löste der fahrlässig durchgeführte Bau einer U-Bahn in der Stadt eine vulkanische Eruption aus, die einen Lavastrom über den Wilshire Boulevard ergoss ("Volcano"). Keine andere Stadt scheint zu solch düsteren Endzeitszenarien zu inspirieren: Die Flutwellen, Killerbienen oder Wasserstoffbomben, die gelegentlich auch einmal Seattle, Houston oder Chicago treffen, bilden ein Vergnügen, dass durch Schrecken in Grenzen gehalten wird. Die Vernichtung von Los Angeles hingegen wird häufig als Sieg der Zivilisation dargestellt.

So weist Mike Davis darauf hin, dass ein Berater des Präsidentschaftskandidaten Bob Dole, der "Independence Day" als patriotisches Vorbild empfohlen hatte, angesichts der in dem Film dem Tod geweihten Hippies, Gays und New-Age-Anhänger, sagte: "Sicher, Millionen sterben, aber das sind ja alles nur Liberale." Die Stadt der Engel - nicht nur in Bezug auf die Häufigkeit der fiktiven Zerstörung einzigartig, sondern auch in Hinblick auf die Lust des Publikums, solche Apokalypsen in "Sin City" zu sehen.

"Ökologie der Angst" ist eine Sammlung von Essays, die teilweise vorher unabhängig voneinander in amerikanischen Fachmagazinen erschienen sind. Zusammen ergeben sie ein faktenreiches und unterhaltsames Sachbuch, das nicht nur in Amerika hohe Wellen geschlagen hat, sondern auch hierzulande Anlass gibt, über das Tempo der Urbanisierung und die Zuspitzung städtischer Konflikte nachzudenken. Doch eins ist bei der Lektüre ganz wichtig: Das Katastrophenbuch von Los Angeles nie vor, sondern erst nach dem Kalifornienurlaub lesen!

Mike Davis: "Ökologie der Angst. Los Angeles und das Leben mit der Katastrophe". Aus dem Amerikanischen von Gabriele Gockel, Bernhard Jendricke und Gerlinde Schermer-Rauwolf, Verlag A. Kunstmann. München 1999, 541 S., 78 Mark.