Lügen ist das halbe Leben

Nach einem psychologischen Experiment wurde wieder einmal festgestellt, dass die Menschen mehr lügen, als sie sich das selbst normalerweise zugestehen

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Gelogen wird bekanntlich nicht nur in den Medien und in der Politik. Jeder führt im Alltagsleben selbst seine Propaganda-Abteilung, der es an Arbeit nicht mangelt, wie ein Psychologe wieder einmal feststellen konnte.

Ehrlichkeit oder Authentizität, die vor kurzer Zeit noch als hervorragende Tugend verstanden wurden und manchen Rousseauisten im Ekel vor der Welt des Scheins und der Verstellung umgetrieben haben, sind wahrscheinlich nicht notwendig die klügsten Verhaltensweisen. Manche Anthropologen gehen davon aus, dass erst die komplizierten Beziehungen des Lebens in größeren Gruppen dem Menschen - und schon zuvor den Menschenaffen - ihre Intelligenz als "soziales Gehirn" ermöglicht haben.

Wichtig ist schließlich nicht nur, die soziale Stellung des Gegenüber schnell feststellen zu können, sondern auch die Absichten hinter seinem Verhalten - und gleichzeitig die eigenen Interessen durchzusetzen, auch wenn dies durch Verstellung geschieht. Und Lügen ist schließlich ein komplizierter Vorgang, bei dem gewusst werden muss, wie man für den Anderen erscheint, wenn man dies oder jenes macht oder sagt. Gleichzeitig hat möglicherweise nur der Erfolg, der nicht nur überzeugend und taktisch klug lügen kann, wenn es notwendig ist, aber auch wie ein sensibler Lügendetektor sofort aufmerksam wird, wenn die Anderen das probieren. Auch erkenntnispraktisch lässt sich nur nach Wahrheit fragen, wenn irgendwie die Lüge vorgängig ist oder den Ausgang bildet.

Selbstdarsteller sind Schauspieler

Aber das ist ein weites Feld, das der Psychologe Robert Feldman von der University of Massachussetts at Amherst ganz empirisch angegangen und zu zwar nicht wirklich überraschenden, aber doch erstaunlichen Ergebnissen gekommen ist. Die meisten Menschen, so Feldman in seinem Artikel "Self-presentation and verbal deception: Do self-presenters lie more?" im Journal of Basic and Applied Social Psychology, lügen, wenn sie sich unterhalten und sich sympathisch sowie kompetent geben wollen, was eigentlich aber auch tautologisch ist, denn Selbstdarsteller sind Schauspieler, die auf einer Bühne vor Zuschauern agieren.

Und das scheint wie am Schnürchen zu laufen. 60 Prozent der Menschen lügen in einer zehnminütigen Unterhaltung mindestens einmal, durchschnittlich aber zwei oder drei Mal. Für das Experiment wurden 121 Studentenpaaren erzählt, dass man erforschen wolle, wie Menschen sich verhalten, wenn sie einen Unbekannten treffen. Es fing also schon mit einer Lüge im Dienste der Wissenschaft an, wie dies so oft in der Psychologie der Fall ist. 10 Minuten Zeit hatte eine Gruppe, um sich selbst dem Anderen als eine sympathische oder liebenswerte Person zu präsentieren. Was sollten sie auch anderes tun, als die Anderen zu verführen, was ja auch eine Art der Lüge ist? Ebensoviel Zeit verbrachten Paare der Kontrollgruppe miteinander, denen keine genauere Aufgabe gestellt wurde.

Die Gespräche wurden mit einer versteckten Kamera aufgenommen. Erst nach dem Experiment wurden die Versuchspersonen nachträglich um Einverständnis gefragt (immerhin!) und gebeten, sich die Videos anzusehen. Alle Lügen sollten genannt werden. Nach Feldman waren die Studenten über ihre lügenselige Art selbst erstaunt: "Wenn sie sich auf dem Video zuschauten, fanden die Menschen, dass sie selbst mehr lügen, als sie dachten, das getan zu haben."

Frauen und Männer unterscheiden sich nach Feldman übrigens auch im Lügen. Nicht dass etwa Männer weniger oft lügen, aber Männer wollen durch Lügen sich eher besser als Hahn herausstreichen, während Frauen sich mit Lügen angeblich fürsorglich um das Wohlergehen ihres Gegenübers zu kümmern scheinen, was man auch mit verführen übersetzen könnte.

Feldman meint jedenfalls, dass Lügen einfach sei - und macht die Sache dann wieder kompliziert: "Wir lehren unseren Kindern, dass Ehrlichkeit die beste Strategie ist, aber wir sagen ihnen auch, dass es höflich sei, so zu tun, als würde ihnen ein Geburtstagsgeschenk gefallen, das sie erhalten haben. Kinder erhalten eine sehr gemischte Botschaft, was die praktischen Aspekte des Lügens anbelangt, und das hat einen Einfluss darauf, wie sie sich als Erwachsene verhalten." Aber so ist das Leben: Wer nur lügt und sich verstellt, läuft in Gefahr, irgendwann nicht mehr Ernst genommen zu werden, wer nur ehrlich ist, darf sich auf ein schweres und womöglich einsames Leben gefasst machen. Lügen ist das halbe Leben - und gelegentlich ziemlich erfolgreich. Feldman will nämlich schon in früheren Experimenten herausgefunden haben, dass die beliebtesten Studenten auch die besten Lügner sind. Der Schwerpunkt liegt dabei wohl auf die "besten" Lügner - womit wir womöglich auch wieder bei der Politik und den Medien gelandet sind.